Soziale Gerechtigkeit im Kapitalismus?

03.02.08
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Von Edith Bartelmus-Scholich

In Deutschland sind Anfang 2007 mehr als 13,5 Millionen Menschen arm [Anfang 2008: 15 Millionen; EBS], davon 2,5 Millionen Kinder und ca. 4 Millionen Langzeiterwerbslose. Die Armen stehen täglich vor der Herausforderung ihr Überleben zu sichern. Tafeln, Suppenküchen, Wärmestuben,  Kleiderkammern und Tauschbörsen haben Hochkonjunktur. Hundertausenden drohen Zwangsumzüge. 200.000 Menschen haben keine Krankenversicherung mehr.

Von sozialen Kontakten sind die Armen meist abgeschnitten. Menschenunwürdige Praktiken der Bürokraten und  menschenverachtende Gesetze werden von der Mehrzahl der Betroffenen als höhere Gewalt erlebt. In den Massenmedien wird nach wie vor eine unerbittliche Hetze gegen Erwerbslose und Arme betrieben. Millionen Menschen wird vermittelt, dass sie selbst an ihrer Lage schuld sind. Die meisten Betroffenen haben resigniert, sie sind unsichtbar, unhörbar und nehmen weder an Demonstrationen noch an Wahlen teil. Tief verunsichert sind auch große Teile der Beschäftigten. Mit der Einführung von Hartz IV ist ein Klima der Angst in die Betriebe eingezogen. Die Aussicht bei Verlust des Arbeitsplatzes zu verelenden, macht die Belegschaften erpressbar, wenn es darum geht Löhne zu senken und Arbeitszeiten zu verlängern.

Kapitalismus und soziale Gerechtigkeit stehen in einem Zielkonflikt. Wo die Eigentumsordnung es zulässt, dass die Ressourcen für das Überleben aller Menschen, die Produktionsmittel und der Mehrwert der Arbeit privat angeeignet und als Kapital akkumuliert werden, ist soziale Gerechtigkeit undenkbar. Wo Menschen sich in fast allen Lebensbereichen nur noch als MarktteilnehmerInnen und WettbewerberInnen  gegenüber treten, wo die Arbeit, so wie die lebensnotwendigen Güter und  die zwischenmenschlichen Beziehungen den Charakter von Waren annehmen, schlagen die Gesetze der Konkurrenz und der Profitmaximierung auf alle Lebensbereiche durch. Ob eine solche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schreiende Not oder halbwegs erträgliche Lebensbedingungen für die auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesenen  Mitglieder einer Gesellschaft erzeugt, hängt nicht in erster Linie von der Ertragskraft der Produktion, sondern von dem bewussten und gemeinsamen Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten um die Durchsetzung der eigenen Interessen ab. Der Grad an sozialer Gerechtigkeit, der im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erreicht wird, spiegelt das Kräfteverhältnis der Klassen wieder. Dieses zu Gunsten der kapitallosen Menschen zu  verschieben, ist der Schlüssel zu erfolgreicher Sozialpolitik in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit im Kapitalismus stellt sich nicht durch Unterordnung unter die Interessen des Kapitals und Anpassung an die Zwänge des Marktes sondern nur durch das Durchsetzen der Interessen der kapitallosen Menschen und das Regulieren des Marktes ein. Dies alles gilt nicht weniger, sondern um so mehr in einer so genannten globalisierten Welt.

Bürgerliche Sozialpolitik

Da die kapitalistische Produktionsweise die Reproduktion der notwendigen Arbeitskraft nicht aus sich selbst heraus sicher stellt, sondern im Wettlauf um den Maximalprofit tendenziell gefährdet und damit zugleich die Voraussetzungen kapitalistischer Produktion und Herrschaft untergräbt, gehört Sozialpolitik zu den regulierenden Instrumenten bürgerlicher Politik. Sozialpolitik als systemerhaltende Komponente bürgerlicher Politik folgt dabei exakt dem Paradigma der Profitmaximierung und nicht etwa dem Gebot der Humanität. Sie zielt darauf ab, dem Kapital die erforderliche Anzahl disziplinierter, leicht in den Produktionsprozess integrierbarer Arbeitskräfte zu erhalten. Zudem trägt sie dazu bei die Gesellschaft zu befrieden, indem sie denen, die unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens keine existenzsichernden Einkommen erlangen können, solange eine hinreichende Sicherung ihres Lebens bietet, wie die Kosten dafür geringer bleiben, als die Kosten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch repressive Maßnahmen.

Dieses Grundmuster bürgerlicher  Sozialpolitik findet sich in der neoliberalen Sozialgesetzgebung der letzten Jahre in Deutschland  wieder. Die Schwäche der Arbeiterbewegung eröffnet dem transnational agierenden Kapital neue politische Spielräume. Immer mehr Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge werden durch Privatisierung der Profitlogik unterworfen. Mit dem, was für  Menschen  unverzichtbar ist, mit Wasser, Energie, Gesundheit etc. sind Höchstpreise zu erzielen.  Gleichzeitig ziehen sich die Eigentümer der Produktionsmittel aus der Finanzierung des Gemeinwesens und der Solidarsysteme  zurück, verlagern die Risiken von Krankheit, Alter und Erwerbslosigkeit immer mehr ins Private. Mit diesem von der bürgerlichen Politik unterstützten Rückzug verschärft sich die Haushaltslage der öffentlichen Hände. Zugzwang zu weiterem Sozialabbau wird so erst geschaffen. Der Ausstieg aus dem Sozialstaat wird offensiv vertreten. Die Zivilgesellschaft, also die Wohltätigkeit, soll an die Stelle staatlicher Sozialleistungen treten, obwohl durch die Auflösung der sozialen Milieus in Deutschland die Vereinzelung der Menschen überwiegt und die Voraussetzungen für leistungsfähiges, zivilgesellschaftliches Engagement dadurch fehlen. Die „Neue Soziale Marktwirtschaft" hat das Subsidiaritätsprinzip, die Hilfe zur Selbsthilfe,  wieder entdeckt und propagandiert eine „vorsorgende Sozialpolitik", die auf die Förderung der Reproduktion der Arbeitskraft gut ausgebildeter und integrierter Schichten zielt. Mit dem zum 1.1.07 eingeführten Elterngeld wird die „vorsorgende Sozialpolitik" exemplarisch sichtbar. Das Kind gut ausgebildeter und gut verdienender Eltern ist dem Staat ein Vielfaches gegenüber dem Kind erwerbsloser und armer Eltern wert.

Wie die Zurichtung von Menschen  für den Markt betrieben wird, zeigt das Konzept des „Förderns und Forderns" in der Arbeitsmarktpolitik. Durch generelle Absenkung der Regelleistungen, Beschränkung der Förderung auf Maßnahmen, die eine Verwertung der Arbeitskraft direkt im Anschluss garantieren, Demütigungen und empfindlichen Strafen bei unerwünschtem Verhalten soll marktkonformes Verhalten von Langzeiterwerbslosen erreicht werden. Das von der rot-grünen Bundesregierung durchgesetzte Hartz IV - Gesetzpaket bedeutet für Betroffene nicht nur Armut, sondern auch Entrechtung, wie sie zuvor nur gegenüber AsylbewerberInnen und Strafgefangenen gegeben war. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, darf nicht mehr selbst entscheiden, wo er den Tag verbringt, wann und wohin er umzieht, wo und zu welchen Bedingungen er arbeitet. Jedes unerwünschte Verhalten, jede Verweigerung gegenüber Kapital und Bürokratie, dient als Vorwand zur Kürzung der Regelleistung bis zur vollständigen Streichung. Es ist offensichtlich, dass mit diesem „Sozialgesetz" die noch verwertbare Arbeitskraft in einen Dumpinglohnsektor gedrückt werden soll. Wer dort nicht mehr integrierbar ist, darf nichts mehr kosten, soll aber kontrolliert und diszipliniert werden.

Linke Sozialpolitik

Dem gegenüber muss linke Sozialpolitik die Interessen der kapitallosen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dabei soll sie die Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen so aufnehmen, wie sie von diesen selbst definiert werden, und mit ihnen gemeinsam politische Lösungen erarbeiten.  Diese und nicht die Interessen des Kapitals sind durchzusetzen. Dabei geht nichts ohne die Ablehnung des Paradigmas der Profitmaximierung und damit des bürgerlichen Ansatzes in der Sozialpolitik. Linke Sozialpolitik soll eben nicht die Arbeitskraft optimal ausbeutbar und wettbewerbsfähig machen. Sie soll auch nicht die in der kapitalistischen Wirtschaft  „Überflüssigen" ruhig stellen oder disziplinieren. Sie soll statt dessen den Menschen helfen, die Diktatur des Marktes zunächst partiell und perspektivisch überhaupt zu brechen. Dazu gehört, Menschen, die zu den Bedingungen des Kapitals nicht arbeiten können oder wollen gegen Armut zu sichern.  Linke Sozialpolitik soll darüber hinaus individuell und gemeinschaftlich Räume eröffnen für selbst bestimmtes Handeln, das nicht dem Gesetz der Profitmaximierung, sondern dem Grundsatz der Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten und der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse genügt. Konkret bedeutet dies, dass sie sich gegen Privatisierung öffentlichen Eigentums  und für die Schaffung zeitgemäßer Formen gesellschaftlichen oder genossenschaftlichen Eigentums einsetzen wird. Die Konzepte linker Sozialpolitik müssen an die tatsächlichen Gegebenheiten in der Gesellschaft anknüpfen. Der Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse, der Auflösung der sozialen Milieus und dem Absterben traditioneller Zusammenlebensformen wie der Ehe und der Familie muss Rechnung getragen werden, indem individuelle Rechtsansprüche für einzelne Menschen definiert werden. Linke Sozialpolitik erklärt den existenzsichernden Unterhalt für Kinder, alte Menschen, Behinderte und Erwerbslose zur Gemeinschaftsaufgabe und nicht zum Privatproblem. Sie geht davon aus, dass es ein gleiches Recht auf  Nahrung, Wasser, Wohnung, Energie, auf Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung für jeden Menschen gibt und sie will alle Mitglieder der Gesellschaft entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben heranziehen. Linke Sozialpolitik gerät damit in einen scharfen Gegensatz zur bürgerlichen Sozialpolitik.

Mitregieren?

In den Parlamenten finden sich derzeit keine Bündnispartner zur Durchsetzung auch nur von Teilen eines solchen Forderungskatalogs. Die Linke kann sich genau dann an Regierungen beteiligen, wenn sie sich dem neoliberalen Paradigma unterwirft.  Faktisch liefen die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei.PDS auf die Revision des eigenen Programms hinaus. Insbesondere in der Landesregierung in Berlin exekutierten die SenatorInnen der Linken neoliberale Grausamkeiten wie Sozialabbau, Privatisierungen und Absenkungen von Tarifen im öffentlichen Dienst. Die Vereinnahmung der Linkspartei.PDS schwächt die Kämpfe gegen den Abbau des Sozialstaats. Eine mögliche Einheitsfront gegen den Neoliberalismus wird aufgebrochen. Im Parlament erhebt sich keine Stimme mehr gegen diese Politik. Gegen Demonstrierende wird auch von der rot-roten Regierung Polizeigewalt eingesetzt. Insgesamt trägt die Beteiligung einer linken Partei an einer Regierung die ein neoliberales Programm umsetzt, zur weiteren Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten des Kapitals und zur Stärkung der neoliberalen Hegemonie bei.

Mit Recht orientieren die WählerInnen einer Partei darauf, dass diese Partei für sie etwas bewegt, und sicher sind vielen von ihnen auch kleine Verbesserungen lieber als gar keine. Solche kleinen Verbesserungen für die von  den negativen Folgen des Sozialabbaus, der Deregulierung und  der Privatisierung betroffenen Menschen sind aber nicht nur über eine Regierungsbeteiligung zu erreichen. Mit der Absicht die sozialen Bewegungen in ihren Kämpfen zu stärken um mittelfristig die neoliberale Hegemonie zu brechen, ist es viel eher sinnvoll durch den Aufbau einer starken parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition und deren abgestimmtes Handeln, die Regierungsparteien vor sich her zu treiben und zu „Nachbesserungen" ihrer Politik zu veranlassen. Wie erfolgreich dies selbst bei größeren Gesetzesvorhaben sein kann, zeigen die Ereignisse des Jahres 2006 in Frankreich und in Belgien. In Frankreich zwang eine Massenbewegung die Regierung in die Knie. Das Gesetz, mit dem der Kündigungsschutz für BerufsanfängerInnen unter 25 Jahren aufgehoben werden sollte, wurde schließlich zurück gezogen. In Belgien gingen Tausende beim ersten Nachdenken der Regierung über die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre auf die Straße um ihren Unmut zu zeigen. Die Regierung hat es bis heute nicht gewagt, diesen Plänen näher zu treten.

Die deutschen Verhältnisse sind gekennzeichnet durch die Bereitschaft von Teilen der Gewerkschaftsführung und von Teilen der Linkspartei.PDS-Führung die den Interessen der kapitallosen Menschen zuwiderlaufende neoliberale Politik des Sozialabbaus, der Deregulierung und der Privatisierung mit zu tragen. Grundsätzlich werden die Ansätze bürgerlicher Sozialpolitik übernommen. Es findet eine Unterordnung unter angebliche Sachzwänge statt, die tatsächlich Interessen geleitete Vorgaben sind. Das Konzept einer linken Sozialpolitik, die die Interessen der kapitallosen Bevölkerung in den Mittelpunks stellt wird dadurch aufgebrochen und ist schließlich kaum noch wieder zu finden.

Da viele Betroffene aus Gewohnheit auf die Gewerkschaftsführung und die parlamentarische Linke orientieren, es aber von dort bestenfalls widersprüchliche Signale gibt, schwächt deren Politik den Widerstand gegen den Soziallabbau. Das denkbare strategisches Dreieck zwischen der parlamentarischen Linken, den Gewerkschaften und den neuen sozialen Bewegungen der vom Sozialabbau Betroffenen gibt es bis heute nicht als politikfähiges Bündnis. Statt dessen läuft die partielle Zusammenarbeit mit der SPD. Dies erlaubt den Herrschenden die Umverteilung von unten nach oben auch im Jahr 2007 mit ca. 32 Milliarden Euro zu ihren Gunsten fortzusetzen. Es gestattet der Regierung Hartz IV weiter zu verschärfen, den Niedriglohnsektor auszubauen und eine Gesundheitsreform zu Lasten der Patienten anzuvisieren. Weitere Grausamkeiten werden folgen. Auf das Bündnis von parlamentarischer Linker, Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen darf weiter nur gehofft werden. Aus den Gewerkschaften kommen Forderungen, die deutlich zeigen, dass Standortdenken und Sozialpartnerschaft noch längst nicht überwunden sind. Ein Mindestlohn von 7,50 Euro, der Armut in Arbeit bedeutet, gehört dazu.

(Edith Bartelmus-Scholich, 7.1.07)

Der Beitrag ist erschienen im Sammelband " Erneuerung des Sozialstaates in Europa", herausgegeben von Lars Dieckmann, Lena Ellenberger, Frank Nietzsche, erschienen 2007 in der Reihe Manuskripte im Karl Dietz Verlag Berlin, ISBN 978-3-320-02119-1.


VON: EDITH BARTELMUS-SCHOLICH

ebs@scharf-links.de




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