Armut als Klassenprojekt

30.03.08
SozialesSoziales, Debatte, Sozialstaatsdebatte, TopNews 

 

Thesen zu Armut, Armutsbekämpfung und alternativer Strukturpolitik

von Christoph Spehr

Die gegenwärtige Ausbreitung von Armut ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. Ebenso wie im Weltmaßstab, sind auch im nationalen Rahmen die notwendigen Ressourcen vorhanden, Armut zu bekämpfen und abzuschaffen. Armutsprozesse sind jedoch Teil der politischen Ökonomie des heutigen Wettbewerbsstaates. Sie umzukehren und aufzuheben, erfordert einen Bruch mit dem gegenwärtigen Klassenprojekt von oben, das Armut produziert und funktionalisiert. Armutsbekämpfung muss als Teil einer alternativen Strukturpolitik begriffen werden, die alle Menschen als Teil der produktiven gesellschaftlichen Entwicklung sichtbar macht und Strategien formuliert, wie allen Zugang zu Ressourcen und Eingriffsmöglichkeiten verschafft werden können.

1. Armut ist keine individuelle Unzulänglichkeit, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis

Armut ist kein Problem individueller Unzulänglichkeit. Es ist auch kein Problem kollektiver „Überflüssigkeit“ sozialer Gruppen.  Armut ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Armut ist Ausdruck einer Störung im Verhältnis zwischen Individuen/Gruppen und gesellschaftlicher Entwicklung, so wie Reichtum auch. Armut bedeutet, dass Menschen und ihre Potenziale von der produktiven Entwicklung der Gesellschaft abgekoppelt werden. Armut bedeutet umgekehrt, dass die Teilhabe und Mitgestaltung an der produktiven gesellschaftlichen Entwicklung Menschen und ihrer Lebensführung vorenthalten wird, dass Menschen gezielt von ihr ausgeschlossen werden. Armut verweist deshalb auf das Fehlen von einbindenden und mitbestimmenden Strukturen in der Gesellschaft. Armutsbekämpfung richtet sich auf das Herstellen, Verstärken oder Weiterentwickeln solcher Strukturen.

2. Armut und Reichtum bedingen sich gegenseitig

Armut und Reichtum bedingen sich gegenseitig. Auch Reichtum ist eine Störung im Verhältnis zwischen Individuen/Gruppen und gesellschaftlicher Entwicklung. Reichtum bedeutet, dass Ressourcen und fixes Kapital privater/privilegierter Verfügung unterstellt und deshalb der allgemeinen Konsumtion und der demokratischen Gestaltung entzogen werden. Die Wirkung von Reichtum beruht auf dem Vorhandensein von Armut. Nur (relative und absolute) Armut erzeugt die Zwangslage, die es erlaubt, Reichtum in Kommando und Macht zu überführen. Die extreme Freisetzung von Armuts- und Reichtumsprozessen in den letzten 20 Jahren ist Teil einer „Mobilisierung“ und „Mobilmachung“ der Gesellschaft für eine behauptete „Weltmarktfähigkeit“.

3. Hintergrund von Verarmung sind die Umbrüche in der globalen Produktionsweise

Die aktuellen Armutsprozesse werden durch neoliberale Globalisierung geformt und zugespitzt. Ihre Ursachen gehen jedoch tiefer. Die weltweiten Umbrüche in der Produktions-, Arbeits- und Lebensweise verändern Arbeitsteilung, Wertschöpfung, den Charakter der Arbeit und die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit. Ohne aktive Demokratisierung, Umverteilung, Selbstveränderung und Steuerung entstehen quasi „organisch“ Entkoppelung und Überakkumulation. Alte Partizipationsstrategien werden entwertet, während alte Verfügungsrechte bevorteilt werden.

Körperliche Arbeit, lokale Ökonomie, langfristige Bindung an einen Betrieb, solide Ausbildung, Aufbau einer Familie, das Großziehen von Kindern, Einbindung in die „kleine Gesellschaft“ von Wohnvierteln und Milieus, sozial angepasstes Verhalten: all dies garantiert keine hinreichende Einbindung mehr in einer Situation, wo Arbeits- und zunehmend auch Reproduktionsleistung weltweit eingekauft werden kann. Heutige Armutsprozesse sind davon geprägt, dass Arbeit und soziales „Normalverhalten“ nicht garantieren, ein auskömmliches Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen, während die Verfügung über Kapital, knappe Schlüsselqualifikationen und der Zugang zu machtvollen und ressourcenstarken Netzwerken sich in hohem Maße „auszahlen“.

Die Politik der Agenda 2010, der Hartz-Gesetze und der steuer- und sozialpolitischen Umverteilung nach oben hatte deshalb so große Durchschlagskraft und konnte deshalb teilweise Akzeptanz erfahren, weil sie ein Macht- und Zugangsgefälle exekutierte, das strukturell bereits eingetreten war.

4. Armut wird heute durch städtische Modernisierung produziert

Heutige Armutsprozesse finden überwiegend in den Städten statt. Die derzeitige Massenarmut ist eine städtische Armut, die einhergeht mit der Produktion von Reichtum, die ebenfalls in den Städten stattfindet. Armut und Reichtum werden freigesetzt durch Modernisierungsprozesse, die soziale Spaltung bewirken. Bestimmende Faktoren dieses Modernisierungsprozesses sind: ökonomischer Strukturwandel; Niedergang alter, extensiver Industrien und Aufstieg neuer, hochtechnisierter und rationalisierter Industrien; Ausdehnung des Dienstleistungssektors; Bedeutungsgewinn von Handel, Logistik, Technologieentwicklung, hochspezialisierter Exportproduktion; verstärkte internationale Mobilität von Kapital, Niederlassungen, Produktionsketten. Ohne politische Regulierung bewirkt der Modernisierungsprozess den Verlust von Arbeitsplätzen, denen keine hinreichende Zahl neuer Arbeitsplätzen gegenübersteht, für die zudem völlig andere Qualifikationen erforderlich sind. Während lokale Produktion und Dienstleistung unter internationalisierten Konkurrenz- und Preisdruck gerät, sind die expandierenden Sektoren global orientierter Produktion und Dienstleistung teilweise preisunelastisch und stattdessen stärker abhängig von Investitionskapital, just-in-time-Produktion, Technisierungsgrad, Flexibilität.

Die Folge ist eine gespaltene Entwicklung. Der global orientierte Sektor bringt hohe Wertschöpfung und Profite und bewirkt ein steigendes Preisniveau, während die lokale Ökonomie und das Gros der unmittelbaren gesellschaftlichen ProduzentInnen von sinkenden Einkommen und stärkerer Unsicherheit betroffen sind. Dies drückt sich in einer sozialen und räumlichen Spaltung der Stadt aus, dem verstärkten Hervortreten „reicher“ und „armer“ Viertel. Während sich in den „armen“ Vierteln Krisen- und Ausschlussprozesse verstärken, findet der Zustrom von „gehobener“ Arbeitskraft und „aussichtsreicher“ Betriebsgründung überregional und international statt. Hieraus entsteht der Eindruck der strukturellen „Überflüssigkeit“ großer Teile der lokalen Bevölkerung, die nicht eingebunden und einbezogen werden, weil der „Neueinkauf“ von Menschen billiger erscheint.

5. Armut und Reichtum sind das Ergebnis von unterschiedlicher Bewertung gesellschaftlicher Arbeit

Mit dem Instrumentarium der feministischen Theorie wird deutlich, dass in diesem Prozess der Großteil der geleisteten gesellschaftlichen Arbeit unsichtbar gemacht wird. Immer größere Teile gesellschaftlicher Arbeit werden zu „Gratisarbeit“ erklärt, für die gesellschaftlich nicht mehr bezahlt wird und die nicht mehr als gesellschaftliche Leistung anerkannt wird. Dies ist möglich, weil die gespaltene Entwicklung und die Eröffnung globaler Märkte für Arbeitskraft, Standorte, Dienstleistungen und Reproduktionsleistungen ein entsprechendes Machtgefälle hervorbringt. Zum globalen „Einkauf“ gehören heute nicht nur Fertigteile und betriebliche Dienstleistungen, sondern auch globalisierte Heiratsmärkte, Hausarbeits-Migration, Zuwanderung, soziale Dienstleistungen.

Der Neoliberalismus privilegiert die Arbeit, die mit der Kombination und Rekombination von Arbeit und Ressourcen zu tun hat, die Kapital anhäuft und mobil macht: in erster Linie die Arbeit von Managern und Investoren, in zweiter Linie die unmittelbar verwertungsrelevante technologische, betriebswirtschaftliche und marktstrategische Arbeit. 

Die Arbeit der unmittelbaren ProduzentInnen dagegen wird entwertet. Dazu gehört die „gewöhnliche“ Arbeit im Betrieb ebenso wie die Familienarbeit, das Aufziehen von Kindern, die Produktion sozialen Kapitals, das Lernen, die Kooperations- und Beziehungsarbeit, die Arbeit gesellschaftlicher Gestaltung. All das wird nicht oder kaum bezahlt, gesellschaftlich geringgeschätzt, die Produzenten werden enteignet, verwundbar gemacht, gesellschaftlicher Gewalt preisgegeben. Lohnabhängige Beschäftigung gilt nicht als Leistung, sondern als „Privileg“. Die gesellschaftliche Reproduktion durch Kinder und Familienarbeit gilt nicht als Leistung, sondern als privates Vergnügen. Gesellschaftliche Organisierung, Partizipation, Mitbestimmung gilt nicht als Arbeit, sondern als Zumutung, als Lähmung der frei operierenden Wertschöpfungskerne. Kooperation im Betrieb, in der Familie, in der Nachbarschaft, alle damit verbundene notwendige Beziehungs- und Interaktionsarbeit, gilt nicht als Leistung, sondern als Anmaßung unverdienter Teilhabe an Entscheidungen und Informationen.

Die empirischen Armutsrisiken spiegeln exakt die Diskriminierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Tätigkeiten. Die höchsten Armutsrisiken haben heute Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende, Menschen und Familien mit Migrationshintergrund, Beschäftigte in bereits schlecht bezahlten Tätigkeiten, die auch am stärksten von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Anstelle der traditionellen Altersarmut tritt die Armut der „Nicht-30-oder-40-Jährigen“.

6. Neoliberale Politik organisiert soziale Polarisierung

Die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion funktioniert nur, weil die diskriminierte gesellschaftliche Arbeit trotzdem getan wird. Sie funktioniert aber immer schlechter, weil es in diesem Bereich systematisch zu Zusammenbrüchen kommt.

Der Neoliberalismus hat die Spaltungsprozesse bewusst akzeptiert und gezielt befördert, aber nicht blindlings. Die gesellschaftliche Spaltung ist überformt von Verhandlungsprozessen mit der bürgerlichen Gesellschaft, ihren lokalen und nationalen Eliten und Hegemonieträgern, denen durch bewusste Regulierungen relevanter Zugang zur gesellschaftlichen Reichtumsentwicklung gewährt wird, auch gegen die objektiven Entwicklungen der Produktions- und Lebensweise.

Ein zentrales Instrument ist das Bildungssystem, das inhaltlich überhaupt nicht reagiert auf den sich wandelnden Charakter der Arbeit und die sich verändernden Voraussetzungen gesellschaftlicher Partizipation und Mitgestaltung. Stattdessen garantiert die Formalisierung von Abschlüssen und die organisierte Unmöglichkeit, ohne häusliche Ressourcen im Bildungssystem zu bestehen, bürgerlichen Schichten den relevanten Zugriff auf die anerkannte und gut bezahlte gesellschaftliche Arbeit. Die Inwertsetzung „unorthodoxer“ Leistung und „alternativer“ Bildungskarrieren, wie sie für die 70er Jahre durchaus kennzeichnend war, wird weitgehend abgewürgt.

Die Hegemonie neoliberaler Politik wird so durch gezielte Zugeständnisse erkauft, die auf Kosten anderer, ausgegrenzter Gruppen erteilt werden. In ähnlicher Weise wirken auch die Umbrüche im Tarifsystem. Das neue Tarifsystem im öffentlichen Dienst hat Familienbestandteile abgeschafft und dadurch ein klassisches Instrument der Armutsprävention eliminiert, es hat den klassischen objektiven Bewährungsaufstieg ersetzt durch individuell zu erbringende Voraussetzungen der Höhergruppierung. Dabei wurde der Besitzstand der aktuell Beschäftigten garantiert, während die Jungen und NeuanfängerInnen die erheblich niedrigeren Bezahlungen des neuen Tarifsystems voll abbekommen.

Zur Politik der organisierten sozialen Spaltung gehört zunehmend auch, Armutsprozesse unsichtbar zu machen und die „besseren“ Viertel und sozialen Gruppen davon abzuschotten. Vertreibung aus dem öffentlichen Raum, aber auch Zwang zur Umsiedlung in „schlechtere“ Viertel für die „Verlierer“ gehören zur Regulierung der Spaltungsprozesse im Interesse ihrer Gewinner und der vorläufig noch daran partizipierenden Gruppen.

7. Armut ist ein Klassenprojekt von oben

Armut in der heutigen Gesellschaft ist weder ein Unfall noch eine Unvermeidlichkeit. Armut ist ein Klassenprojekt von oben. Armut wird produziert, in Kauf genommen und befördert als Teil der politischen Ökonomie des Neoliberalismus. Armut verbilligt die Kosten der Arbeit und der Reproduktion. Zusammenbrüche werden durch Ausweitung der Märkte der Arbeit und der ökonomischen Kooperation abgefangen sowie durch globale Stratifikation. Migration, häuslicher Dienstleistungssektor (von Putzen bis zur Tagesmutter), Import von Frauen und IT-ArbeiterInnen, Verlagerung von Produktionsprozessen an geeignete Standorte mit hinreichender Integration schwächen die Verhandlungsmacht der lokalen Bevölkerung.

Es vollzieht sich ein Übergang vom Arbeits- zum Armutsregime. Das untere soziale Drittel wird „verbilligt“, indem Transferleistungen verringert und Billigdienstleistungen erzwungen werden, deren Bezahlung nicht einmal die unmittelbaren Überlebenskosten deckt. Das mittlere soziale Drittel wird diszipliniert durch die Angst vor dem Abstieg; es ist in weiten Teilen theoretisch und praktisch ebenfalls austauschbar geworden und in seiner Verhandlungsmacht dadurch deutlich eingeschränkt. Das obere soziale Drittel wird subventioniert. Dazu gehören sowohl die Vorleistungen für die Betriebe, Eigentümer und „Hochqualifizierten“ des globalen Exportsektors, als auch die Zugeständnisse an bürgerliche Schichten und nationale Eliten.

 Verbilligung, Disziplinierung, Subvention sind die drei Hauptrichtungen des modernen Klassenprojekts „Armut“. Dabei verbinden sich Kapitalbesitzer, Manager und das Leitungspersonal der internationalen Konzerne mit nationalen Eliten und Teilen der bürgerlichen Schichten, um die höchstmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen Mehrwert zu verbinden mit der geringsten notwendigen Ausgabenpolitik zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Stabilität. Die Instrumente dieses Klassenprojekts sind: Umverteilung nach oben durch „Steuerreform“, Verbilligung und Ersetzbarkeit der Arbeit durch Marktöffnungen (GATS), Abbau sozialstaatlicher Garantien und Transferleistungen (Hartz-Gesetze, Agenda 2010).

Während in den 80er Jahren noch ein offensichtlicher Kapitalbedarf für weitreichende technologische, logistische und organisatorische Investitionen bestand, um offensiv auf Globalisierungspotenziale zu reagieren, haben sich seit Ende der 90er Jahre die Gewinne deutlich von den Investitionen entkoppelt. Die Produktion von Armut und Reichtum wird dadurch deutlich als Klassenprojekt von oben sichtbar. Es privatisiert gesellschaftliche Ressourcen zu unproduktivem Reichtum und untergräbt gesellschaftliche Reproduktion durch langfristig schädigende Armutsprozesse, um die Herrschaft der besitzenden Klasse, d.h. ihre politische Kontrolle über die Entwicklung der Produktions- und Lebensweise, zu sichern.

Dabei werden in großem Stil Wechsel auf die Zukunft aufgenommen. Armutsprozesse sind nicht nur katastrophal für die betroffenen Menschen, sondern stellen volkswirtschaftlich eine Form verdeckter Schuldenaufnahme dar, weil gesellschaftlich notwendige Investitionen in Bildung und soziales Kapital aufgeschoben werden und spätere teure „Reparaturen“ vielfältiger sozialer Zusammenbrüche in Kauf genommen werden. Armutsprozesse sind die teuerste Form sozialer Schulden.

 

Die Problematik der selbstverstärkenden Armutsprozesse

 
8. Armut produziert Armut

Wer arm ist, kann notwendige Investitionen nicht vornehmen: in Gesundheit, Bildung, soziale Integration. Das beginnt mit einer gesunden Ernährung, die von den nach Hartz IV kalkulierten 4 Euro täglich (Kinder: 2,62 Euro) nicht zu machen ist. Es setzt sich fort mit Kita-Ausfahrten und Klassenfahrten, für die kein Geld da ist, unzureichender Schulausstattung, fehlendem Geld für soziale Unternehmungen, Immobilität im Stadtgebiet. Die repressive Verwaltung der Armut erzwingt einen Lebensstil, in dem Energien vorrangig für die Verbilligung der eigenen Lebensführung aufgewendet werden.

Armut macht verwundbar. Kleinste Ereignisse, die zusätzlichen materiellen Aufwand erfordern (kaputte Waschmaschine), können nicht bewältigt werden. Die Abschaffung der Einmalzahlungen lässt diese Verwundbarkeit offen zu. In Bremen gibt es jährlich 8.000 Stromabschaltungen für private Haushalte wegen nicht bezahlter Rechnungen. Das Hartz-System gibt Willkürakten der Verwaltung breiten Raum. Armut spielt sich in einer ständigen Kette von „Dramen“ (Barloschky) ab, deren Bewältigung zum Lebensinhalt wird und doch nie wirklich gelingt.

Armut ist Enteignung, nicht nur am materiellen, sondern auch am kulturellen und am sozialen Kapital. Armut ist Deinvestition in Menschen und soziale Zusammenhänge.

9. Sozialräumliche Zurichtung verfestigt Armut

Die räumliche und soziale Spaltung der Stadt setzt eine Vielzahl von selbstverstärkenden Armutsprozessen frei. Armut wirkt sozialräumlich und generationsübergreifend.

Der Wohnort in der Stadt bestimmt die Lebenschancen. Arme Stadtviertel sind benachteiligte Stadtviertel. In armen Stadtvierteln stirbt man früher, wird häufiger krank, bekommt man keine Jobs, ist Gewalterfahrungen und Kriminalität ausgesetzt.

Die Prozesse verstärken sich gegenseitig. In Stadtteilen, wo das Einkommen niedrig ist, erhält sich keine lokale Ökonomie (Läden, Handwerk etc.). Entsprechend gibt es keine Jobs in der Nachbarschaft. Kulturelle und soziale Angebote sterben ebenfalls aus, weil nicht bezahlt werden kann. Einkommensstärkere und sozial besser integrierte Familien und Individuen ziehen irgendwann weg, weil es keine Konsum- und Kulturangebote im Stadtteil gibt. Ärmere Familien und Individuen ziehen zu, weil die Mieten fallen. Die individuellen Kosten, sich dem armen Stadtviertel zu entziehen, d.h. kulturelle und Bildungsangebote in anderen Stadtvierteln wahrzunehmen, werden immer höher. Die gesellschaftlichen Kosten die nötig wären, um „abkippende“ Stadtviertel wieder zu integrierten, gut versorgten, angebotsreichen Quartieren zu machen, die nicht immer weiter immer stärkere Armut produzieren, steigen exponentiell, je weiter der Prozess fortgeschritten ist.

10. Armut zerstört soziales Kapital

Soziales Kapital bezeichnet die Ressourcen, über die Individuen und Gemeinschaften verfügen in Gestalt von sozialen Beziehungen, Vernetzung, Verlässlichkeiten. Soziales Kapital bedeutet, „zu jemand gehen zu können“; es bedeutet, Kooperation und gegenseitige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. Soziales Kapital ist eine entscheidende Bedingung gesellschaftlicher Produktivität und persönlicher Lebensbewältigung.

Armut an sich zerstört nicht soziales Kapital, aber ignorante und repressive Armutspolitik zerstört es. Zwangsumzüge reißen Menschen aus gewachsenen Beziehungen heraus. Nach den neuen Verwaltungsvorschriften sind z.B. auch Schulwechsel kein Hinderungsgrund mehr. Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums zerstört Orte, an denen soziales Kapital sich entfalten kann, ohne dass dafür bezahlt werden müsste. In armen Stadtteilen fehlen Jugendzentren und Begegnungsorte. Die Zerstörung der lokalen Ökonomie trifft auch die Möglichkeiten sozialer Vergesellschaftung.

11. Das Bildungssystem verfestigt die Koppelung von sozialer Herkunft und Lebenschancen

Gute Viertel schicken ihre Kinder aufs Gymnasium, schlechte Viertel auf die Sekundarschule. Die Bedeutung häuslicher Ressourcen (kultureller, zeitlicher und materieller) für den Bildungserfolg steigt. Der Besuch von Kitas ist Doppelverdienern vorbehalten: wer ausgegrenzt ist, dessen Kinder kriegen auch keine frühkindliche Bildung. Während in Horn-Lehe z.B. 85% der Kinder das Gymnasium besuchen, sind es in Tenever nur 20%. In Tenever erhalten auch nur 20% der Jugendlichen einen Ausbildungsplatz.

Das Bildungssystem kümmert sich dabei wenig um die realen Veränderungen von Arbeit und Gesellschaft. Es ist nach wie vor hauptsächlich darauf ausgelegt, Lernen nach äußerem Kommando und unter externem Stress abzufordern und dadurch diejenigen zu selektieren, die aufgrund häuslicher Sozialisation und mitgebrachten Ressourcen bildungsbürgerlich definierte Anforderungen erbringen können. Während Kooperation, Motivation, Kreativität angesichts der Subjektivierung von Arbeit immer wichtiger werden, ebenso wie der Umgang mit Informationsnetzwerken, prüft das Bildungssystem die Wiedergabe frontal vermittelten Wissens unter Konkurrenzdruck ab.

Das herrschende Bildungssystem nimmt Ineffektivität und die Vergeudung von Jahren hin, weil es Teil des Klassenprojekts von oben ist: Es privilegiert bürgerliche Sozialisation und vermittelt den Individuen frühzeitig, „selber schuld“ zu sein. „Das allermeiste dessen, was wir traditionell unter Erziehung verstehen, (ist) sowohl überflüssig als auch direkt schädlich, denn es ist nicht nur ungesund für Kindern, sondern blockiert auch das menschliche Heranreifen und die Entwicklung der Erwachsenen, und letztlich wird die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen destruktiv beeinflusst.“ (Jesper Juul, „Das kompetente Kind“)

12. Der Zusammenbruch familiärer Ökonomien produziert häusliche Gewalt

Armut führt zum Zusammenbruch häuslicher Ökonomien und schafft dadurch die Bedingungen für Gewalt und „Feindseligkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen“ (Brückner). Aufgrund der vorenthaltenen materiellen und sozialen Ressourcen „versagen“ die Individuen und wenden dieses Versagen gegeneinander.

Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Isolierung verstärken persönliche Abhängigkeit. Repressive Geschlechter- und Familienverhältnisse werden dadurch begünstigt. Alleinerziehende Frauen gehören zu den am häufigsten von Armut betroffenen sozialen Gruppen, was den Ausweg aus repressiven und entwicklungsfeindlichen familiären Beziehungen für sie zu einer hochriskanten Perspektive macht.

Die strukturellen Armutsrisiken lassen Kinder und Lebenspartnerschaften als persönliche Bedrohung erscheinen. Wer Single und kinderlos ist, ist fünfmal weniger von Armut betroffen. Zusammen mit der spezifischen narzisstischen Kränkung, die Arbeitslosigkeit für männliche Identität darstellt, entstehen hier „tatnahe Bedingungen von Inhumanität“ (Brückner), die sich in männlicher Gewalt gegen Kinder und Frauen entladen.

Dabei geht es nicht nur um die sichtbare Gewalt in offen gescheiterten Familienverhältnissen, sondern auch um die strukturelle Gewalt in den still gescheiterten, scheinbar normal funktionierenden. Das Armutsregime führt vor, dass sich Bindung und Beziehung „nicht lohnt“. Es setzt auch „funktionierende“ Familien und Individuen unter den Stress der Scheiternsdrohung und belastet sie zunehmend mit Aufgaben und Funktionen, die nicht mehr öffentlich wahrgenommen und unterstützt werden.

13. Der Zusammenbruch lokaler Ökonomien produziert Perspektivlosigkeit

Lokale Ökonomie, d.h. Ökonomie die am Ort Güter und Dienstleistungen für lokale Märkte produziert und vertreibt, ist eine primär für lokale Beschäftigung offene Ökonomie. Lokale Ökonomie ist eine Ökonomie mit niedrigerem Wettbewerbs- und Auslesedruck, sowohl hinsichtlich der Güter als auch der Arbeitskraft. Sie ist daher inklusiver, bietet mehr Chancen auch für weniger spezialisierte und qualifizierte Arbeitskraft, Anstellung zu finden.

Unter den Bedingungen globalisierter Ökonomie funktioniert lokale Ökonomie auch als „Hub“, an Anschlussstelle für die internationalisierten Produktions- und Dienstleistungsbereiche. Hier werden Qualifikationen und Erfahrungen erworben, die Zugang auch zu diesen Arbeitsstellen eröffnen.

Der armutsbedingte Niedergang lokaler Ökonomie in den einkommensschwachen Stadtteilen verstärkt daher mehrfach die Perspektivlosigkeit. Er vernichtet Arbeitsplätze und kappt zugleich den Zugang zu den Arbeitsplätzen, die bereits berufliche Erfahrung erfordern.

Zur Kritik der herrschenden Armutspolitiken

14.  Die Große Koalition hat Armut produziert und ignoriert

Die Strukturpolitik der Großen Koalition hat die Spaltung der Stadt vorangetrieben. Die Strategie, mit hohem Investitionsaufwand „Leuchttürme“ zu etablieren, die Wachstum und Arbeitsplätze schaffen sollten, ist nicht aufgegangen. Die formulierten Modernisierungsstrategien, die den Übergang von der Industrieproduktion zur Dienstleistungsökonomie und zu stärker wissensbasierten Produktionsbereichen forcieren sollten (Stadtentwicklungskonzept 1999-2009, InnoVision 2010, Wissenschaftsplan 2010 etc.), waren nicht darauf gerichtet, die Gesamtheit der lokalen Ökonomie mit einzubeziehen.

Der Masterplan Kultur, der die innovativen Potenziale durch die Förderung kulturellen Kapitals und einen erweiterten Begriff soziokultureller Produktion stärken wollte, ist nach dem Scheitern der Kulturhauptstadtbewerbung aufgegeben worden. Im Endeffekt reduzierte sich die Entwicklungsstrategie der Großen Koalition auf ein „Dubai-Konzept“, durch Großprojekte Touristen anziehen zu wollen, mit Ergebnissen, die in keinem Verhältnis zum finanziellen Aufwand standen. Während sich einige Wirtschaftsbereiche stark entwickelt haben (insbesondere Häfen und Logistik), ist die Verbindung zur lokalen Ökonomie und der Breite der Bevölkerung praktisch abgerissen. Die gespaltene Entwicklung wurde nicht bekämpft, sondern in der Formel des „Sparen und Investieren“ geradezu zum Programm erhoben.

15. Grüne Entwicklungspolitik ist ein modernisiertes bürgerliches Projekt

Die strukturpolitische Konzeption der Grünen orientiert sich stark am Konzept der Kreativen Industrien als (post)moderner Entwicklungs- und Wachstumsmotor.  Im Sinne von Richard Florida soll die „TTT-Strategie“ (Talent, Technologie, Toleranz) eine Innovationsorientierung vorgeben, die sich weniger auf Rationalisierungsinvestitionen und Großproduktion, sondern auf moderne „Start-Ups“ im weiten Feld von Medien, Software, Kulturproduktion und spezialisierter Dienstleistung richtet. Das Augenmerk richtet sich auf kreative „Clusterbildung“ in neuen Stadtteilen wie der Überseestadt.

Im Unterschied zur Politik der Großen Koalition wird der Wandel zur Dienstleistungs- und wissensbasierten Ökonomie hier nicht als Eventfabrik missverstanden. Das Abhängen breiter Teile der lokalen Ökonomie und der Mehrzahl der Stadtteile ist dennoch programmatisch. Eine Entwicklungsperspektive wird nur für die qualifizierten, anschlussfähigen bürgerlichen Schichten eröffnet. Die tendenzielle Überflüssigkeit derer, die im Zuge des Strukturwandels aus bisherigen Arbeitsplätzen herausfallen, wird nicht offensiv bekämpft. Migration wird zwar als wesentliche positive Voraussetzung moderner Standortbedingungen begriffen. Das Integrationsangebot richtet sich allerdings an qualifizierte, „fertig zugereiste“ MigrantInnen. Die Mehrzahl der MigrantInnen zweiter und dritter Generation, die überdurchschnittlich häufig in armen Stadtteilen wohnen, werden von diesem Integrationsangebot nicht erfasst.

Die rot-grüne Regierungspolitik in Bremen hat bislang keine Initiativen zur Armutsbekämpfung vorgelegt. Die einzigen, vagen Ausnahmen sind das geplante kostenlose Mittagessen für Kinder von Geringverdienern an Ganztagsschulen und das von der LINKEN geforderte und inzwischen von Rot-Grün übernommene Sozialticket. Die rot-grüne Orientierung ist eine Fortführung der Politik der Großen Koalition, bereinigt um die Klientelpolitik der CDU. Die Absenkung der investiven Ausgaben dient jedoch schlicht der Kosteneinsparung. Eine Umorientierung zu einer anderen Entwicklungsperspektive, in die anders investiert werden muss, findet nicht statt.

16. Der Mainstream der Armutspolitik unterstützt die politische Ökonomie der sozialen Spaltung

Die politische Ökonomie der heutigen städtischen Armutsprozesse, die auf der Entwicklungstendenz der gespaltenen Stadt beruht, wird vom Mainstream der Armutspolitik nicht in Frage gestellt. Die Folgen der Armut sollen möglichst kosteneffizient eingedämmt werden. Dass ein Teil der städtischen Ökonomie sich vom Rest abkoppelt (und dabei massiv gefördert wird) und im günstigsten Fall die Armut dieses „Restes“ mit seinen hohen Profiten alimentieren soll, gilt als selbstverständliche Voraussetzung. Arme sind in dieser Lesart Modernisierungsverlierer. Armutspolitik soll das Los der Modernisierungsverlierer etwas lindern, die vollständige generationsübergreifende Bindung der Armutsprozesse etwas abmindern und den Verfall der Stadtteile etwas bremsen.

Die Wand zwischen beiden Teilen der städtischen Ökonomie wird undurchlässiger. Beschäftigungspolitik nimmt zunehmend den Charakter bloßer „Beschäftigung“ an, d.h. sie sorgt dafür, dass die Ausgegrenzten etwas zu tun haben. Die im Mainstream der Diskussion vorgeschlagenen Maßnahmen (stärkere Zuschüsse für Familien mit Kindern, Anhebung der Regelsätze, Ausbau der sozialpädagogischen „Vorfeldaufklärung“, mehr Investitionen in Bildung) zielen darauf ab, Ausschluss erträglicher und teilweise durchlässiger zu machen, aber nicht darauf, Ausschluss gezielt zurückzudrängen und abzuschaffen.

17. Ein Wiederherstellen alter Sozialstaatlichkeit reicht nicht aus

Der Abbau bisheriger sozialstaatlicher Garantien und Leistungen ist ein besonders aggressiver Teil des Klassenprojekts „Armut“. Diese Leistungen und Garantien wieder herzustellen, wäre aber alleine nicht ausreichend, heutige Armutsprozesse zu bekämpfen. Die politische Ökonomie der gespaltenen Entwicklung würde damit nicht aufgehalten. Es muss um mehr gehen als die Existenzsicherung auf einem qualitativ ausreichenden materiellen Niveau. Es geht um eine neue Aktualität des Rechts auf Arbeit, um Anschluss, um Zugang zur produktiven Entwicklung, um einen Umbau der politischen Ökonomie hin zu einem inklusiven, nachhaltigen, alle einbeziehenden Entwicklungspfad.

Neben die alten sozialstaatlichen Instrumente müssen daher Strategien treten, welche gezielt eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten und Verbindungen für neue Beschäftigung und breitere Einbeziehung schaffen, während sie die zunehmende Intensivierung und Extensivierung der Arbeit bremsen und umkehren. Arbeitszeitverkürzung, Ausbau eines Dritten Sektors zwischen Staat und Privatwirtschaft, Grundsicherung sowie branchen- und stadtteilspezifische Entwicklungsstrategien stehen im Fokus der gegenwärtigen Diskussion, die sich unter den Formeln von „guter Arbeit“, „solidarischer Ökonomie“ und „inklusiver Stadtentwicklung“ um eine partizipative Weiterentwicklung des Arbeitsbegriffs bemüht.

18. Die Betroffenen nicht als Opfer, sondern als Akteure ernst nehmen

In der internationalen Armutspolitik hat sich inzwischen zumindest theoretisch die Einsicht durchgesetzt, dass Armutsbekämpfung den Standpunkt aufgeben muss, die von Ausgrenzung Betroffenen als passive Opfer und Objekt von Politik zu sehen. Betroffene sind nicht passiv, sondern setzen sich in ihren Alltagsstrategien und in ihrer Selbstorganisation aktiv mit ihrer Situation auseinander und versuchen sie zu bewältigen. Armutsbekämpfung, die nicht daran ansetzt, ist zum Scheitern verurteilt.

Dies deckt sich mit dem gewerkschaftlichen Bemühen, auch die Beschäftigten nicht als passive „Erleider“ von Strukturwandel zu sehen, sondern aktiv einzubeziehen. „Vielfach werden in der öffentlichen Debatte Beschäftigte nur als von Arbeitsplatzverlust bedrohte ‚Opfer‘ wahrgenommen. Allenfalls fällt ihnen noch die Rolle zu, passive Zielgruppe von beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen o.ä. zu sein. Eine tragende Akteursrolle bei der Umgestaltung ihres Unternehmens wird den Beschäftigten kaum zugetraut. Als DGB wissen wir allerdings, dass die betriebliche Realität anders aussieht.“ (DGB Bremen/Bremerhaven 2007)

Die Betroffenen als zentrale Akteure anzusehen und ihnen echte Partizipation bei der Bekämpfung von Armutsprozessen, Ausschlussprozessen und Risiken des Strukturwandels zuzugestehen, ist in der Praxis jedoch eher die Ausnahme. Die Einsicht, „dass wirkliche Partnerschaft die echte Bereitschaft, Macht zu teilen, voraussetzt“ (Baker in Stiftung Bauhaus 1996), ist ein Kernpunkt für eine inklusive Politik und für eine veränderte Herangehensweise.

19. Armutsbekämpfung muss Teil einer alternativen Strukturpolitik sein

Armutsbekämpfung kann sich nicht damit begnügen, die Folgen der gespaltenen Entwicklung zu mindern und die unmittelbare Situation der Betroffenen individuell abfedern zu wollen. Armutsbekämpfung muss sich als Teil einer alternativen Strukturpolitik verstehen, die allen in der Stadt einen lebbaren und produktiven Platz in einer „solidarischen Stadt“ (Alisch) verschafft.

Eine alternative Strukturpolitik erfordert ein verändertes Verständnis vom Charakter ökonomischer Prozesse. Diese beruhen eben nicht nur und nicht einmal in erster Linie auf Kosteneffizienz und Konkurrenz, sondern auf Kooperationsformen, auf sozialen Netzwerken, auf erfolgreichen Beziehungen zwischen Akteuren. Eine alternative Strukturpolitik rückt die „Einbettung“ („embeddedness“) von Produktivität in eine lokale Sozial- und Kulturlandschaft in den Mittelpunkt. Sie organisiert die Bedingungen einer nachhaltigen Reproduktion nicht nur des Überlebens, sondern von „Wirtschaftsfähigkeit“ als kollektiver Eigenschaft einer inklusiven Standortpolitik.

Armutsbekämpfung als Klassenprojekt von unten

20. Der globale Sektor muss die Kosten der Reproduktion bezahlen

Armutsbekämpfung kann sich nicht mit Almosen zufrieden geben. Die gespaltene Entwicklung der Stadt ist weder natürlich noch gerecht. Die hochprofitablen Sektoren der Produktion von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte sind Teil einer gesellschaftlichen Produktivität, zu der selbstverständlich auch die Produktion von Gesellschaftlichkeit, das Aufziehen von Kindern, die aktive und kooperative Tätigkeit von Beschäftigten ebenso wie die bildende und organisierende Tätigkeit von Familien gehört, die innovative Weiterentwicklung sozialer, kultureller und technischer Potenziale auf breiter Front und die Einbettung in eine lokale Ökonomie, die nicht nur ein lebenswertes städtisches Umfeld herstellt, sondern auch jene Vielzahl an qualifizierten, flexiblen und räumlich nahen Dienstleistungen, Qualifikationen und Strukturen, in die erfolgreiche Produktion eingebettet ist.

All das muss bezahlt werden. Die scheinbare Überflüssigkeit erheblicher Teile der lokalen Ökonomie und ihrer Menschen ist lediglich Ausdruck eines Machtverhältnisses. Der globale Sektor sucht sich seine Produktionsvoraussetzungen zum Nulltarif, d.h. als kostenlose Subvention, und wirtschaftet damit sein lokales Umfeld herunter bis zur Funktionsunfähigkeit. Dies ist weder politisch akzeptabel noch ökonomisch auf Dauer erfolgreich. Diejenigen Produktionsbereiche, wo Wertschöpfung und Profite schwerpunktmäßig anfallen, müssen daher zur Finanzierung ihrer eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen herangezogen werden.

Dies betrifft zunächst die Ebene der Steuerpolitik und der Finanzierung von Ländern und Kommunen. Es gibt aber auch auf lokaler Ebene Formen der Einbindung und Heranziehung. Staatliche und private Hafengewinne ebenso wie die Bezahlung städtischer Dienstleistungen seitens der großen Konzerne können genutzt werden, um aus einem damit gebildeten Fonds Strukturwandel inklusiv und solidarisch zu steuern – durch Investitionen in Stadtentwicklung, Beschäftigung, Ausbildung, kulturelle und soziale Innovation. Denkbar ist auch eine Rolle des lokalen Staates als Zwischenhändler von flexiblen Dienstleistungen, der Verdienstausfälle, Qualifikation, Infrastruktur und Vermarktung prekärer Kleinanbieter finanziert und dafür spezifische Abgaben von den großen Abnehmern dieser Dienstleistungen erhebt. Die bisherigen Strukturen reichen jedenfalls nicht aus, um die Voraussetzungen der Produktion nachhaltig zu finanzieren.

21. Die unmittelbaren ProduzentInnen brauchen Sicherheit, Stabilität und Selbstbestimmung

Die von Neoliberalismus privilegierte Arbeit der Kombination und Rekombination von Ressourcen und Arbeit für internationale Märkte hat spezifische „Bedürfnisse“: Flexibilität, Investitionskapital, Verfügbarkeit. Diese Anforderungen sind in den letzten Jahren ausführlich angemeldet und in Politik umgesetzt worden.

Die Arbeit der unmittelbaren ProduzentInnen, egal ob im Betrieb, in den Familien oder als Dienstleister, hat ebenfalls spezifische Bedürfnisse: Sicherheit, Stabilität, Selbstbestimmung. Diese Bedürfnisse müssen verteidigt und ausgebaut werden. Sie brauchen ein verlässliches Einkommen, planbare und zumutbare Arbeitsanforderungen und öffentliche Unterstützung, die ihnen die Freiheit gibt, Lebensentscheidungen ohne Armutsrisiken zu treffen. Auch diese Anforderungen gilt es sowohl als Bedingung von Armutsbekämpfung, als auch als Element von Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung zu berücksichtigen.

22. Armutsbekämpfung muss soziales Kapital verteidigen

Den politischen Angriff auf soziales Kapital zu stoppen, ist dringendes Gebot von Armutsbekämpfung. Wesentliche Instrumente sind der Stopp jedweder Zwangsumzüge, die Wiedereinführung von Einmalzahlungen für Empfänger von Transferleistungen, die Aufstockung der freien Beratungsangebote und transparente Darlegung der Transferbedingungen und Anspruchsmöglichkeiten, die Einführung des Sozialtickets, kostenfreie Kita-Nutzung unabhängig von der der Erwerbstätigkeit, eine Aufstockung der Fallmanager beim Jugendamt und der Familienhebammen als wohnortnaher Betreuung.

23. Armutsbekämpfung muss soziale Herkunft und Partizipation entkoppeln

Der Umbau des dreigliedrigen zum zweigliedrigen Schulsystem löst kein Problem. Notwendig ist ein einheitliches Schulsystem für alle mit individueller Binnendifferenzierung, Ganztagsschulen mit freiem Mittagessen, ein Ausbau der stadtteilbezogenen Jugendarbeit (mit festen Quoten für Mädchen- und Jungenarbeit) und die Einführung der Zweitkraft für alle Kitas.

24. Armutsbekämpfung muss die sozialräumliche lokale Ökonomie stärken

Die Programme zur Stärkung der sozialräumlichen Ökonomie müssen erheblich ausgebaut werden. Dazu gehören Soziale Stadt, WiN, die stadtteilbezogene Jugendarbeit und die Wiedereinführung eines Kulturinvestitionsfonds mit sozialräumlichen Bezügen. Die Mitbestimmung der Bewohner und Stadtteilinitiativen ist auszubauen und verpflichtend zu machen.

25. Armutsbekämpfung braucht einen neuen Typus öffentlich geförderter Beschäftigung

Beschäftigungspolitik muss wirklich wollen, dass Arbeit geleistet wird und Beschäftigung entsteht. Das ist keineswegs trivial, sondern bedeutet, mit Zielkonflikten und Reibungsflächen umzugehen. Einerseits soll Beschäftigungspolitik möglichst „real“ sein, sinnvoll und produktiv, und Übergänge in selbsttragende lokale Ökonomie und Selbstbeschäftigung anbahnen. Andererseits soll Beschäftigungspolitik zusätzlich sein, nicht mit kommerzielle Angeboten konkurrieren, als möglichst „unreale“ Arbeit sein.

Dieser Konflikt ist nur konkret lösbar. Notwendig ist die enge Anlehnung an die lokalen Aktionspläne und integrierten Handlungskonzepte in den Stadtteilen, die Entwicklung von sektoren-, branchen-, stadtteil- und themenbezogenen Entwicklungsstrategien, die mit den verschiedenen Betroffenen abgestimmt werden. Notwendig ist ein Ausbau der Beschäftigungspolitik mit Landesmitteln unter Nutzung der BA-Mittel, die für sozialversicherungspflichtige Angebote eingesetzt werden. Dies ist die Idee des in den Haushaltsanträgen der LINKEN vorgeschlagenen Landesprogramms „Sozialräume stärken – Beschäftigung entwickeln“.

„Das Ziel ist, die Wirtschaftslogik weniger übertrieben selektiv zu gestalten, dabei aber der Versuchung zu widerstehen, marginale ‚Gelegenheitsjobs‘ zu schaffen, oder einen getrennten Sektor für die Arbeitslosen zu etablieren.“ („Appell der 35“, Italien 1995) Das bedeutet auch, speziell in den sozial besonders betroffenen Stadtteilen Übergänge zu ermöglichen, wo Zuverdienste in höherem Maße zugelassen werden und geförderte Projekte auch kommerzielle Einnahmen generieren können, die für die Weiterentwicklung dieser Projekte kapitalisiert werden dürfen.

26. Armutsbekämpfung braucht ein armutsfestes Tarifsystem

Die derzeitige Entwicklung des Tarifsystems ist nicht armutsfest. Notwendige Bestandteile wären: Mindestlöhne, (Wieder)Einführung von Familienbestandteilen, Beendigung der Jugenddiskriminierung beim Kündigungsschutz, neue Modelle von solidarischer Arbeitszeitverkürzung, familienfreundliche Arbeitsbedingungen bezüglich Gleitzeit und selbstbestimmter Flexibilität, sowie wieder eine Senkung der Arbeitsintensität auf ein vertretbares Maß.

27. Armutsbekämpfung muss von der Selbsttätigkeit und Selbstorganisation der unmittelbaren ProduzentInnen ausgehen

Stadtteilversammlungen und Stadtteilprojekte, Selbstentscheidung, Dezentralisierung, Unterstützung von Selbstorganisation, unabhängige Beratungsstellen, Vielfalt von Angeboten, Zugang („open source“) zu Vernetzung und Globalität, kulturelle Initiativen aus den Quartieren, Unterstützung einer „grounded economy“/ „Wirtschaft von unten“ sind Eckpunkte einer aktiven und gleichberechtigten Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen als Akteure.

28. Eine beschäftigungsorientierte, sozial integrative und armutsfeste Strukturpolitik muss Armutsbekämpfung in Zukunftsentwicklung einbinden

Armutsbekämpfung kann nicht „zusätzlich“ erfolgen. Sie ist Teil der Orientierung an einem Leitbild: der solidarischen Stadt. Auch für die einzelnen Stadtteile, insbesondere für die von Armut und sozialen Problemlagen besonders betroffenen Quartiere, müssen Leitbilder und Entwicklungsziele die Richtung vorgeben, welche produktive Entwicklung hier gefördert werden kann. Armutsbekämpfung erfordert Planung und geplante, zielgerichtete Unterstützung von Eigeninitiative, wenn selbstverstärkende Armutsprozesse durchbrochen und umgekehrt werden sollen.

Beispiele anderer Städte zeigen, dass das möglich ist. Stadtviertel können revitalisiert werden, neue Funktionen annehmen, neue Attraktivität gewinnen und Armutsprozesse durchbrechen. Voraussetzung ist, dass dies politisch gewollt und ökonomisch unterstützt wird.
 

Fazit: Armutsbekämpfung und solidarische Stadt

29. Armutsbekämpfung erfordert den Bruch mit dem herrschenden Klassenprojekt von oben

Vor dem Hintergrund von ökonomischen Umbruchsprozessen und Globalisierung ist Armut in den späten 90er Jahren als Klassenprojekt von oben durchgesetzt worden. Die Politik der Agenda 2010 hat Verbilligung von Arbeitslosigkeit, Disziplinierung von Beschäftigten und einseitige Subventionierung der Flexibilisierungsansprüche von Unternehmen implementiert. Die Hartz-Gesetze haben Armut, Desintegration, Enteignung, Zerstörung sozialen Kapitals, Koppelung von sozialer Herkunft und Lebenschancen und die Zerstörung lokaler solidarischer Ökonomie forciert.

Das Klassenprojekt Armut bedient kurzfristige Gewinninteressen großer Konzerne. Mittel- und langfristig sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen fatal. Die Politik der Agenda fördert Dequalifizierung und Billigarbeit statt den Aufbau einer integrativen, moderne Qualifikationen bereitstellenden  â€žEinbettungsökonomie“. Sie häuft soziale Schulden auf und vernachlässigt die breite Modernisierung der Gesellschaft, die Heranführung breiter Bevölkerungskreise an neue Chancen und Anforderungen und die Mitbestimmung und Mitgestaltung von Beschäftigten, Nichtbeschäftigten und Stadtteilen. Auch dies produziert teure Fehler und verhindert eine sinnvolle, geplante ökonomische Einstellung auf veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen.

Das Klassenprojekt Armut ist ein typisches Beispiel der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung von Kosten und Verlusten. Dies geschieht auch entlang der Spaltung von Bundes-, Länder- und Kommunalfinanzen. Die Logik der „Sanierung“ verstärkt die Reichstums- und Armutsprozesse immer weiter. Armutsbekämpfung erfordert den politischen Bruch mit diesem Projekt.

30. Armutsbekämpfung braucht eine feministisch-sozialistische Perspektive

Eine moderne Gesellschaft in einer modernen Ökonomie braucht neue Instrumente, ein neues Verständnis von Ökonomie und Arbeit und eine sachkundige, innovative Vermittlung zwischen Mitbestimmung, Selbstorganisation und Planung. Die Beseitigung von Armut ist in ihr vordringlich. Dies erfordert ein alternatives Klassenprojekt von unten, das die Interessen von Betroffenen, Bedrohten, Marginalisierten und allen, die an einer sozial gerechten, gesellschaftlich freien Entwicklung interessiert sind, zusammen bringt.

Armutsbekämpfung als Teil eines Klassenprojekts von unten braucht die Inspiration durch eine sozialistische und feministische Perspektive. Sie erfordert eine Neudefinition von Arbeit, eine gleichberechtigte Anerkennung der vielfältigen gesellschaftlichen Arbeit der unmittelbaren ProduzentInnen in- und außerhalb der Betriebe, eine Auseinandersetzung mit der Subjektivierung der Arbeit, den neuen Kooperationsformen in der Arbeit, der Verbindung von produktiver und reproduktiver Bedeutung der verschiedenen Tätigkeiten und Produktionsformen.

Zu einer solchen Perspektive gehört auch, die demokratische Kontrolle der Ressourcen und des gesellschaftlichen Kapitals als selbstverständliche Bedingung einer modernen, sozial gerechten Ökonomie einzufordern. Die naive Illusion der Hochprofit-Sektoren und Hochgewinn-Tätigkeiten, ökonomisch irgendwie „aus sich selber zu schöpfen“ und überdies für alle anderen zu „bezahlen“,

muss durchbrochen werden. Ein zeitgemäßes Verständnis ökonomischer Prozesse erfordert die realistische Bewertung der realen gesellschaftlichen Kosten der Produktion und die Bereitschaft, die Kontrolle der individuellen und kollektiven Lebensbedingungen durch die Menschen selbst zu wollen – sei es als Arbeiterkontrolle im Betrieb, als demokratische strategische Wirtschaftsplanung in der Gesellschaft oder als basisdemokratische lokale Entwicklungsplanung im Stadtteil. Nur mit einer solchen Perspektive ist Armutsbekämpfung und der Kampf um die solidarische Stadt möglich.

 

Literatur

Monika Alisch und Jens Dangschat: Die solidarische Stadt. Ursachen von Armut und Strategien für einen sozialen Ausgleich, Frankfurt/Main 1993.

Arbeitnehmerkammer Bremen: Armut in Bremen. Die soziale Spaltung der Stadt. Armutsbericht 2007, Bremen 2007.

Joachim Barloschky: Kommunale Strategien gegen Kinderarmut, Bremen (masch.) 2007.

Peter Brückner: Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Reinbek 1981.

Christoph Butterwege (Hrsg.): Kinderarmut in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen, 2. Aufl. Frankfurt/Main 2000.

Gabriella Carolini u.a.: A Home in the City. Report on the UN Task Force on Improving the Lives of Slum Dwellers, London 2005.

Jens Dangschat: Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung, Opladen 1999.

DGB Bremen/Bremerhaven: Das Land Bremen braucht eine Strukturpolitik, die Arbeitnehmerinteressen integriert. Positionspapier zur Bürgerschaftswahl 2007 , Bremen (masch.) 2007.

Wolfram Elsner, Andreas Hübscher und Manfred Zachcial: Regionale Logistik-Cluster. Statistische Erfassung, Stärken und Schwächen, Handlungspotentiale an den Beispielen Bremen, Hamburg und Rotterdam, Frankfurt/Main 2005.

Richard Florida: Cities and the Creative Class, New York 2005.

Nancy Folbre: The Invisible Heart. Economics and Family Values, New York 2001.

Lily Kong: The Sociality of Cultural Industries. Hong Kong’s cultural policy and film industry, International Journal of Cultural Policy, Vol. 1, No. 1, 2005.

Horst Lange: Bremen: Handelsstadt – Industriestadt – Dienstleistungsstandort. Vorbereitet auf das 21. Jahrhundert? In: Hartmut Roder (Hrsg.): Bremen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aufbruch, Umbruch oder chronischer Sanierungsfall, Bremen 2005.

Christian Palentien: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland, Wiesbaden 2004.

Marco Revelli: Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit, Münster 1999.

Senator für Kultur: Masterplan für die Kultuförderung 2004 bis 2010, Bremen 2004.

Babette Scurrell: Chancen reproduktiver Arbeit in schrumpfenden Regionen, in: Adelheid Biesecker und Wolfram Elsner (Hrsg.): Erhalten durch Gestalten. Nachdenken über eine (re)produktive Ökonomie, Frankfurt/Main 2004.

Leslie Sklair: Sociology of the Global System, 2. Aufl. London 1995.

Stiftung Bauhaus Dessau (Hrsg.): Wirtschaft von unten – people’s economy. Beiträge für eine soziale Ökonomie in Europa, Dessau 1996.

Günter Tempel und Eberhard Zimmermann (Hrsg.): Gefährdete Kindheit. Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf die Entwicklungschancen von Kindern in Bremen, Gesundheitsamt Bremen, Bremen 2007.

Margherita Zander: Kinderarmut. Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis, Wiesbaden 2005.

hier der Artikel als pdf-Datei

 

Quelle: www.dielinke-bremen.de/politik/debatte/gesellschaft_politik/armut_als_klassenprojekt/







<< Zurück
Diese Webseite verwendet keine Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz