Von Franz Schneider, Saarbrücken
Grundlegende Erkenntnisse, die sich aus der Corona-Krise aufdrängen, dürften vor allem linker Politik neue Impulse geben. Bei den anderen politischen Formationen bin ich da eher skeptisch.
Die Krise macht überdeutlich, dass eine Wirtschaft ein riesiges Kooperationssystem ist. Innerhalb der Marktwirtschaft funktioniert es sicherlich sehr produktiv nach dem Prinzip individueller Gewinn geht vor Gemeinwohl. Die Schwachen und die Armen fallen einfach durch den Rost. Die Corona-Krise zeigt nun, dass wir mehr als Kooperation brauchen. Wir brauchen eine Form der Zusammenarbeit, innerhalb der Menschen bereit sind, Verantwortung für das Gesamtgebilde Gesellschaft zu übernehmen. Nicht die Suche nach eigenen Vorteilen stellen diese Menschen in den Vordergrund, sondern den persönlichen Beitrag zum Allgemeinwohl. Sie haben verstanden, dass funktionierende Kooperation ohne die Kraft des Vertrauens und die Verantwortungsübernahme für einen anderen nicht möglich ist. Der Schwächere kann dem Stärkeren vertrauen, dass dieser ihm hilft, wenn er der Hilfe bedarf. Und ganz besonders, wenn er in eine solche Situation ohne eigenes Verschulden gerät.
Eine moderne Gesellschaft bedarf der wirtschaftlichen Kooperation. Auch Wirtschaften ist eine Form des Kooperierens. Seit Jahrzehnten erleben wir die weltweite Wirtschaft im Dauerzustand des Krisenmodus. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Kooperationskrise. Es fehlt die Bereitschaft zur Einsicht, dass es auch in der Wirtschaft stärkere und schwächere Teilnehmer gibt. Heiner Flassbeck1 weist immer wieder auf die sträfliche Missachtung der Leistungsbilanzgewichte zwischen unterschiedlich starken Volkswirtschaften aus makroökonomischer Perspektive hin. Ohne die Herstellung eines Ausgleichs zwischen Starken und Schwachen erzeugt jedes System Kollateralschäden mit unkontrollierbaren Auswirkungen.
Das Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip, dem das egoistisch handelnde Individuum zugrunde liegt, hat sich als unfähig erwiesen, dort ein System vertrauensvoller und verantwortungsvoller Kooperation herzustellen, wo der einfache Warentauschgedanke nicht mehr ausreicht. Weder verantwortungsvoll gegenüber dem sozial und finanziell Schwächeren, noch verantwortungsvoll gegenüber der Umwelt.
Ich möchte dies am Beispiel des Kredits verdeutlichen. Innerhalb wirtschaftlicher Kooperation ist der Kredit (in seinen vielfältigen Formen) ein ganz wesentliches Element. Der dem Kredit eigentlich zugrunde liegende Solidargedanke ist verschwunden hinter Gewinnerzielung und Besitzsteigerung. Deshalb bedarf der Kredit einer neuen Form der Kooperation. Hinter dem Wort Kredit verbirgt sich bei näherem Hinsehen ein geradezu paradoxales Verhalten. Kredit bedeutet „Vertrauen“. Die Wirtschaftsakteure „erinnern“ sich durchaus dieser Tatsache. Sie haben jedoch in ihrer Erinnerung die fundamentalen Voraussetzungen, die Vertrauen ausmachen, gelöscht. Mit Unterstützung der Rechtsprechung. Schauen wir uns an, wie der Vertrauens- und Verantwortungsbegriff in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem durch die Rechtsprechung pervertiert und systemkonform umfunktioniert wurde.
Kredit ist Kooperation auf Zeit. Durch den Kredit wird – theoretisch – eine verantwortungsvolle Vertrauensbeziehung zwischen zwei Menschen hergestellt. Der eine vertraut dem anderen eine schon erbrachte Leistung an, und der andere verspricht, dieses Vertrauen durch eine noch zu erbringende Leistung zu erwidern. Kredit kann vielfältige Formen annehmen. Wenn Eltern ihre Kinder aufziehen, dann ist das auch ein Kredit. Er kann, in welcher Form auch immer von den Kindern „zurückbezahlt“ werden. Kredit lässt sich eben nicht nur auf die Kategorie des Geldes reduzieren. Genau das geschieht im Kapitalismus. Geld kann aber nicht das Ziel des Kredits sein. GELD IST LEDIGLICH EIN MITTEL ZUR BEGLEICHUNG DES VERTRAUENSVORSCHUSSES.
Wir haben es mit einer Deformierung und Umfunktionierung des Vertrauensbegriffs zu tun. Man muss sich bewusst machen, dass der eigentliche Zweck des Kredits darin besteht, das „gute Leben aller“ zu erreichen. In der Kredit-Kooperation ist die Vertrauensbeziehung jedoch zu einer Geldbeziehung geworden. Kredit ist zu Geldkredit geworden. Mit der Zurverfügungstellung eines Darlehens oder den Zinseinnahmen und der Rückzahlung wird nur die Illusion des guten Lebens aller geschaffen. Diese Illusion muss zerstört werden, um die Dinge in der Kredit-Kooperation wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Möglich wurde das dadurch, dass aus dem Kredit eine privatrechtlich-vertragliche Angelegenheit und aus dem öffentlichen Gut „Geld“, das der Staat hoheitlich emittiert und garantiert, Privatgeld wurde. Der staatliche Gesetzgeber hat sich aus der Sinnbestimmung des Geldes zurückgezogen. Der arbeitslose Kreditschuldner bekommt diesen Rückzug des Staates in aller Härte zu spüren. Der Kreditgeber ignoriert die unverschuldete Notsituation des Schuldners. Er sieht seine Aufgabe durch die Vergabe des Kredits als schon erfüllt an. Die Funktion des Staates reduziert sich nur noch auf die des Sanktionierenden. Im Falle des Zahlungsverzugs kommt zuerst die Mahnung, dann der Gerichtsvollzieher, und schließlich schlägt die Zwangsvollstreckung brutal zu. Der Rückzug des Staats aus seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung lässt den Vertragsschwächeren allein zurück. Dieser ist ungeschützt dem Vertragsstärkeren ausgeliefert.
Das Übelste an der Sache ist, dass der zahlungsunfähige Schuldner moralisch diskreditiert wird. Die Vertragsgleichheit wird zwar im privatrechtlichen Vertrag aufrechterhalten. Die tatsächlich schwächere Position des Kreditnehmers ist jedoch das Ergebnis einer Umfunktionierung des Risikos. Aus einem objektiven Kreditrisiko wurde eine subjektive menschliche Schwäche konstruiert. Aus einem Schuldner ist ein Schuldiger geworden, wenn er seinen Kredit nicht mehr bedienen kann.
Kreditgeber und Gerichte haben die eigene Verantwortung für die Verwertung des Geldes ausgelagert und zu einer Informationspflicht des Kreditnehmers herabgewürdigt. Diesem wird die Aufgabe übertragen, Unverantwortliches im Bankenverhalten zu erkennen. Womit er schlichtweg überfordert ist. Es ist ein Leichtes, ihm „nachzuweisen“, dass er sich nicht richtig informiert habe.
Ob die Hinderungsgründe für die Zahlung selbst verschuldet wurden oder ob sie ohne eigenes Zutun eingetreten sind (Kündigung der Arbeit, Krankheit, Tod des Partners etc.) spielt keine Rolle. Traurige Konsequenz dieses Kreditsystems ist, dass die Diskriminierung des Kreditempfängers umso stärker ist, je riskanter seine Zahlungskraft angesehen wird, aber auch je weniger er in der Lage ist, das Informationsangebot intellektuell zu bewältigen. Hier fällt einem schnell der Konsum(enten)kredit ein, häufigste Ursache der privaten Verschuldung.
Die Subjektivierung der Schuld unter dem Deckmantel der Eigenverantwortung entbindet die Bank davon, sich mit diesen „Störungen“ der Geldbeziehung zu befassen. Zur Klarstellung sei gesagt, dass Eigenverantwortung selbstverständlich menschliches Handeln bestimmen muss. Es wird aber dann problematisch, wenn sich die Verantwortung für etwas dem persönlichen Verantwortungsbereich entzieht. Halten wir also fest: In einem Finanzsystem, das in seiner logischen Konsequenz auf ein individualistisches Tauschsystem ausgerichtet ist, das soziale Not als Kreditrisiko verwettet, braucht man das Risiko nicht mehr zu verstehen. Es wird nicht mehr verhandelbar gemäß dem Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“.
Die Kritik am Kreditystem muss aber noch tiefer ansetzen, um an den Kern des Problems zu gelangen. Weder gute Beratung, noch gute Informiertheit genügen, um die gesellschaftsschädlichen Auswirkungen des Kredits wirksam zu entschärfen. Denn sowohl beim Beratungsmodell als auch beim Informationsmodell bewegen wir uns im Rahmen einer Verhaltensaufsicht. Diese kann nicht verhindern, was schon vorher bei der Konstruktion der Kreditprodukte zum Schaden des Kreditnehmers „übersehen“ wurde. An Wucher grenzende Zinsen beim Dispositionskritik, windige und teure Restschuldversicherungen, ungerechtfertigt hohe Vorfälligkeitsentschädigungen sind Auswüchse, die schon durch die der Verhaltensaufsicht vorgelagerte Bankenaufsicht (BaFin) hätten beseitigt werden müssen. Forderungen einer linken Politik – von anderer Seite werden sie kaum erhoben werden – müssen immer wieder in diese Richtung zielen.
Die in der Korona-Krise zu beobachtenden Stundungen von Kreditzahlungen verdeutlichen zumindest eines. Der Kredit ist immer ein Kooperationsversuch. Er verbleibt aber in all diesen Fällen auf der Stufe eines Almosens. Das reicht nicht. Die Forderungen bleiben ja bestehen. Wir werden erleben, wenn die aufgelaufenen Forderungen beglichen werden müssen, dass der Kreditmarkt die Not der Schuldner systematisch ausbeutet. Was also ist zu tun?
Das Fehlverhalten der Banker muss wieder juristisch (an)greifbar werden. Denn der Betrugsvorwurf ihnen gegenüber entfaltet praktisch keine Wirkung mehr. Er macht sich unangreifbar hinter der juristischen Person (das Bankunternehmen), in deren Auftrag er handelt. Und für die gilt wiederum das finanzsystemkonforme Verhalten als oberste Maxime. Auch die Gerichte scheinen das mittlerweile so zu sehen. Der Vorwurf der Untreue, der für das Fehlverhalten des Bankers noch übrigbleibt, bewahrt ihn vor einer wirksamen Strafe und endet entweder in einer mühelos bezahlbaren Geldstrafe, wenn überhaupt, oder in einem Freispruch.
Wir haben uns weit entfernt von einem Vertrauensbegriff, der genährt wird von der gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme für persönliche Notsituationen, die den Rahmen der Eigenverantwortung übersteigen. Die Krankenschwester, die den Banker als Corona-Patienten gesundgepflegt hat, hat aber genau das getan. Wir haben uns entfernt von der Verantwortungsübernahme des Stärkeren für den Schwächeren. Der durch äußere nicht von ihm zu vertretene Umstände zahlungsunfähig gewordene Kreditnehmer wird alleine seinem Schicksal überlassen.
Wenn unsere Gesellschaft aus dem Dauerkrisenmodus, d.h. aus der umeltzerstörenden, soziale und menschliche Beziehungen zerstörenden Logik herauskommen will, dann muss sie ihr Verhältnis zu Kredit und Zinsen neu bestimmen. Wir müssen begreifen, dass die großen Probleme, die uns alle betreffen werden, nur zu lösen sein werden, wenn wir alle solidarisch miteinander kooperieren. Und das heißt wiederum, dass wir die historische Fehlannahme einer Möglichkeit endlosen Wachstums über Bord werfen müssen2. Funktion und Handhabung des Kredits in einem solchermaßen „geläuterten“ Wirtschaftsmodell müssen von Grund auf neu bestimmt werden.
Um die angestrebten Veränderungen hin zu einem kooperativen Wirtschaftsmodell zu bewerkstelligen, reichen auch solche Vorschläge nicht aus, wie sie etwa Thomas Piketty („Das Kapital“) macht. Seine Vorschläge zur Umverteilung des Geldvermögens sind zwar dringend notwendig, sie reichen aber nicht aus, um aus der Wachstumsspirale herauszukommen. Sie verlagern nur die Möglichkeiten von Konsumtion und Reinvestition bestimmter Bevölkerungsteilen zu anderen Bevölkerungsteilen.
Welche Möglichkeit bleibt also? Die Antwort von Udo Reifner3, auf dessen Überlegungen sich dieser Artikel stützt, lautet folgendermaßen: „Die Diskussion um arm und reich gehört in die Realwirtschaft. Dort wird am leichtesten zu begreifen sein, dass in einer kooperativen Wirtschaft jede Arbeitskraft zählt und zwar unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit, wenn nur der Beitrag des einzelnen für das Ergebnis des Kollektivs wichtig ist und der individuell Arme zum Reichtum der Gruppe wird. Die Menschheit würde einen großen Schritt nach vorne machen, wenn sie die Diskussion von reich und arm vom Geldschleier befreien und sich auf die Teilhabe aller an Arbeit, wirtschaftlicher Gestaltung, Bildung, Gesundheit, Kultur u.a.m. konzentrieren würde. Reichtum wäre dann Ausdruck des Anvertrauens von Mitteln der Wirtschaft einer Gesellschaft, die so zu benutzen sind, dass es »zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dient«. (Art. 14 GG)“ (Bd 2, S. 74)
1) Heiner Flassbecks Positionen zur privaten Geldschöpfung, zur Geldschöpfung der EZB, zu den Zielen von Nachfrage und zur Wachstumslogik bedürfen aus meiner Sicht einer kritischen Hinterfragung.
2) Beispielhaft sei hier auf Helge Peukert (2013, 5. Aufl.) verwiesen: Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise, S. 607.
3) Udo Reifner (2017) Das Geld
Band 1: Ökonomie des Geldes – Kooperation und Akkumulation
Band 2: Soziologie des Geldes – Heuristik und Mythos
Band 3: Recht des Geldes – Regulierung und Gerechtigkeit