Buchtipps von Michael Lausberg
Buch 1
Peter Prange: Der Traumpalast. Im Bann der Bilder, Scherz, Frankfurt/Main 2021, ISBN: 978-3-651-02578-3, 25 EURO (D)
Dies ist das erste Buch von Peter Pranges neuem großem Zeitgeschichte-Roman: „Der Traumpalast“ – die Roaring Twenties im Spiegel der Ufa-Traumfabrik. Zu Beginn macht Prange schon klar, dass Handlung und Personen frei erfunden sind.
Hintergrund ist das pulsierende Berlin in den Zwanzigerjahren. Die „Goldenen Zwanziger“ stehen für Vergnügen und Aufbruchsstimmung. Theater, neue Kunstströmungen und sportliche Höhepunkte waren beliebt, jedenfalls, die sich es leisten konnten. Der Berliner Broadway bot auch jede Menge Kleinkunst: Bars, Nachtclubs, Weindielen, russische Teestuben, neue Ballhäuser, wie das Ambassadeur oder die Barberina sowie die kleinere Königin oder das demimondäne Riorita, in denen man nicht nur tanzen, sondern auch soupieren konnte. Neue Tänze wie der Charleston und der neue Jazz waren lange umstritten. Ferner waren der Alexanderplatz und der Potsdamer Platz Inbegriff der lebhaft pulsierenden Weltstadt Berlin. Viele der den Alexanderplatz begrenzenden Gebäude und Bahnbrücken trugen große Leuchtreklametafeln, die die Nacht zum Tag machten. Sein Gesicht änderte sich von Tag zu Tag. Genauso wie die dynamische Gesellschaft.
Im Roman geht es speziell um den Hype von Kinos und der Aufstieg der UFA, die immer neue, beliebte Filme herausbrachte.
Unabhängig voneinander werden die beiden Hauptprotagonisten Rahel und Timo erzählt, die Fäden laufen im Lauf des Romans zusammen.
Die junge Rahel will nicht dem Lebensplan ihres Vaters folgen, sondern hat eigene Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft. Dies war nicht selbstverständlich in der männerdominierten Gesellschaft. Zum Unwillen ihres Vaters will sie Journalistin werden und hat dafür auch Talent. Sie muss sich gegen vielerlei Widerstände durchbeißen, sie muss für ihren Traum kämpfen und beweist dabei Hartnäckigkeit Mut und Willensstärke.
Andererseits wird die Lebenssituation von Tino Reichenbach erzählt, der in einer Bank arbeitet und zum Großbürgertum gehört. Er ist aber mit seinem Beruf nicht glücklich, und möchte selbst was erreichen. Er will mit Hilfe des finanziellen Grundstockes seines Vaters, einem reichen Bankier, in das Filmgeschäft einsteigen und entdeckt die dabei UFA für sich. Er wird Finanzdirektor der UFA Filmgesellschaft und ist Wegbereiter für den Bau eines der großen Kinos der Stadt.
Die beiden einen große Träume und das Überwinden von verschiedenen Widerständen dabei sowie die Abgrenzung von ihren Eltern.
Als sich die beiden kurz begegnen, verliebt sich Tino gleich in Rahel. Durch unglückliche Umstände verlieren sie sich aus den Augen. Dies ist jedoch nur der Anfang einer Liebesbeziehung.
Dies wird alles in zeitgeschichtliche Entwicklungen eingebettet: Die fragile Weimarer Republik und das Erstarken des extremen rechten Flügels, der kurzfristig sich verändernden politischen Koalitionen, der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise und Inflation ebenso wie die Weiterentwicklung der Geschicke der UFA, die davon betroffen war.
Peter Prange hat einen wortgewaltigen ersten Teil geschrieben, der eine facettenreiche Mischung aus Filmgeschichte, politischer Geschichte und Zeitpanorama sowie eine Liebesgeschichte beinhaltet. Ausschnitte der Zeitgeschichte werden sehr gut vermittelt, ebenso das Lebensgefühl und die Charaktere.
Gut ist auch, dass am Ende des Buches eine Kurzcharakterisierung der Hauptpersonen abgedruckt wird, was Verwirrungen vermeidet und eine Hilfe für Leser ist.
Das Buch zeigt die detaillierte Hintergrundrecherche des Autors auf, dennoch ist es an einigen Stellen zu langatmig geschrieben.
Ein Problem ist auch, dass das Buch dem Mythos der „goldenen Zwanzigerjahre“ noch zusätzliche Nahrung verleiht. Viele Bevölkerungsgruppen lebten aber in der Zeit des Fortschritts und der Blütezeit der Kultur in Armut, waren obdachlos, kriegsversehrt oder unterernährt. Diese Schattenseiten der 20er Jahre hätten mehr Beachtung verdient, um ein realistischen Geschichtsbild zu zeichnen.
Buch 2
Bono: Surrender. 40 Songs, eine Geschichte, Droemer, München 2022, ISBN: 978-3-426-27805-5, 32 EURO (D)
In diesem Buch schreibt Bono, Sänger von U2, zum ersten Mal selbst über sein Leben und über die Menschen, die ihm nahestehen.
Dies ist aber eine Aufarbeitung und Reflexion darüber wie ein Leadsänger und eine Band aus bescheidenen Anfängen und Freunden aus Kindertagen zusammenkamen und schließlich zu einer der größten Rockbands aller Zeiten wurden.
Dieses Buch taucht tief in das Leben von Bono ein und wie U2 zu dem wird, was sie heute sind, einer der erfolgreichsten Rockbands der Geschichte.
Dass Bono mit Sprache und lyrischen Ausdrucksformen umgehen kann, zeigt sich auch hier wieder.
Der Tenor des Buches und die Stimmung ist vielfältig: Es wechselt zwischen nachdenklich, lustige, selbstironische, emotional und introspektiv.
Das Buch gibt nicht nur Anekdoten der Bandgeschichte, sondern auch Einblicke, die weithin unbekannt sein dürften.
Bono geht tief in seine Kindheitsbeziehungen, den Tod seiner Mutter mit 14 Jahren und andere wichtige Momente ein, die ihn als Person geprägt haben. Seine Mutter starb an einem Aneurysma, einer permanente Erweiterung des Querschnitts von Schlagadern infolge angeborener oder erworbener Wandveränderungen. Seine Trauer und das Erinnern wird dabei authentisch ausgebreitet.
Nicht nur bei diesen Nackenschlägen beschreibt er die Bedeutung des christlichen Glaubens in seinem Leben, den er quasi als Ankerpunkt und als Stütze in seinem Leben sieht. Es enthält natürlich auch viele Geschichten und Anekdoten nach dem Ruhm, Tourneen und Aufnahmen von Alben usw. und ihren politischen, gesellschaftlichen und religiösen Überzeugungen, die oft oftmals Themen in Liedern und auf Konzerten sind.
Es handelt auch von seinem gesellschaftlich-karitativen Engagement: Die Unterstützung von AI oder Greenpeace, die Konzerte gegen Armut und soziale Ungleichheit in den Welt und das weitreichende Engagement gegen AIDS.
Insgesamt ein offener, ehrlicher und unterhaltsamer Blick auf sein Leben, seine Liebe, Spiritualität, seine Beziehung zur Musik und seine Bandkollegen.
Buch 3
Andreas Steinhöfel/Melanie Garanin: Völlig Meschugge?!, Carlsen, Hamburg 2022, ISBN: 978-3-551-79609-7, 20 EURO (D)
Völlig Meschugge?! entstand nach einem Drehbuch von Andreas Steinhöfel, Klaus Döring und Adrian Bickenbach. Während die gleichnamige TV-Serie, die bei KIKA im ZDF läuft, mit jungen Schauspieler*innen gedreht wurde, zeichnet Melanie Garanin dieselbe Geschichte aus der Sicht von Charly und verleiht ihr damit eine weitere Perspektive.
Das Wort Meschugge kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie verrückt werden. Damit ist die emotionale Konstellation gut beschrieben: Umweltschützerin Charly, der syrische Flüchtlingsjungen Hamid und Benny sind dicke Freunde und unternehmen viel zusammen. Bennys Opa liegt im Sterben, zum Abschied gibt der seinem Enkel einen Davidstern. Erst als Benny den öffentlich trägt, wird allen bewusst, dass er Jude ist. Hamid als Moslem kann damit wenig anfangen. Schlagartig sprudeln aus den Jugendlichen die tradierten Ressentiments und Weltdeutungen der Erwachsenenwelt. Antisemitische Sprüche tauchen plötzlich auf, Benny wird nicht mehr als ganzer Mensch gesehen, sondern nur noch auf die Konstruktion des Jüdischsein beschränkt.
Die Freundschaft wird aber zusätzlich durch eine Reihe von Handydiebstählen an der Schule auf die Probe gestellt. Rassismus und Antisemitismus breiten sich rasch aus, die Lehrer*innen können damit nicht umgehen und wirken hilflos und eingeschüchtert.
Der Hintergrund des Buches ist ein aktueller, der wachsende Antisemitismus in Schule und Gesellschaft: Wie der Fall eines jüdischen Schülers an einer Schule im Schöneberger Ortsteil Friedenau: Der Junge wurde von seinen Mitschülern wegen seines Jüdischseins so sehr gemobbt, dass seine Eltern ihn schließlich von der Schule nahmen.
Demonstrationen gegen Israel mit einigen antisemitischen Symbolen und Spruchbändern sowie Flaggenverbrennungen oder physische Angriffe wie gegen Shahak Shapira, der in Israel geboren wurde und längere Zeit in Berlin lebt, gingen durch die Gazetten. Shapira wurde in der Neujahrsnacht von sieben jungen Männern angegriffen und erlitt dabei einige Beulen am Kopf und eine leichte Gehirnerschütterung.
Viele der Szenen und Handlungssequenzen sind nicht fiktiv, sondern traurige Realität an einigen Schulen und außerhalb. Das verleiht der Geschichte Authentizität.
Die Zeichnungen und Texte sind emotional, eindringlich und vielschichtig, aber auch für Jugendliche gut zu verstehen.
So kann auch mittels des Mediums Graphic Novel das Buch und natürlich auch die TV-Serie dazu beitragen, vor allem Kinder und Jugendliche für die Themen Antisemitismus, Ausgrenzung, rassistische Stereotype und Praktiken sensibilisieren und Auswege daraus für sich zu finden. Das Buch kann auch gut im Unterricht eingesetzt werden.
Buch 4
Arnaldur Indriðason: Wand des Schweigens. Island Krimi, Lübbe, Köln 2022, ISBN: 978-3-7857-2824-6, 22 EURO (D)
Hier präsentiert der isländische Autors Arnaldur Indriðason einen neuen Fall des pensionierte Polizisten Konráð. Dies ist der vierte Band der Serie.
Wie in anderen Werken davor wird auch hier Gegenwart mit einer mysteriösen Vergangenheit verbunden. Die in vergangenen Büchern schon angedeutete Wunden seiner Kindheit und die fast schon verzweifelte Suche nach den tragischen Umständen des Todes seines Vaters werden in diesem Buch weitergeführt. So erhält man immer wieder Einblicke in das Privatleben des Polizeibeamten. So wechselt die Handlung immer wieder zwischen den Zeitebenen. Neben den eigentlichen Ermittlungen in diesem Fall kommen Erinnerungen an Konraðs Vater und seine eigene Kindheit hoch.
Durch einen Unfall werden im Keller eines Hauses die Jahrzehnte eingemauerten Überreste eines Menschen gefunden. Konráð ahnt, dass dieser Leichenfund mit dem ungeklärten Tod seines Vaters zusammenhängen könnte. Die Schatten der Vergangenheit lassen ihn nicht los. Bei seinen früheren Kollegen erfährt er nichts über die näheren Umstände oder laufende Ermittlungen. Seine Mutter und er selbst zu den Tatverdächtigen im Fall seines Vaters gezählt, dieses Misstrauen gegenüber dem pensionierten Kommissar besteht weiterhin. So bliebt ihm nicht weiteres übrig als auf eigene Faust zu ermitteln.
Es werden auch Verbindungen zu dem früheren Krimi „Das Mädchen an der Brücke“ gezogen, wo Bekannte des pensionierten Kommissars wenden sich an ihn wenden, um die Suche nach einem drogenabhängigen Mädchen, das spurlos verschwunden ist, zu übernehmen.
Szenen menschlicher Abgründe, häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch sind auch dieses Mal Gegenstand der Handlung.
Die Frage nach Täter oder Opfer bei den thematisierten Charakteren taucht immer wieder auf genauso wie die Motive der Schuld und Rache. Es werden starke, wenn auch nicht sonderlich sympathische Charakterdarstellungen gezeigt.
Dieses Mal hat das Buch einige thrillerartige Elemente, eine stark ansteigende Spannungskurve und auch Gewaltszenen, die nicht sehr appetitlich sind. Ein typischer Indriðason-Krimi mit einigen Neuerungen, versehen mit einem starkem Plot.
Buch 5
Arttu Tuominen: Was wir verbergen. Kriminalroman, Lübbe, Köln 2022, ISBN: 978-3-7857-2811-4, 16,99 EURO (D)
Dies ist der zweite der auf sechs Bände angelegten Delta-Serie des finnischen Autors Arttu Tuominen, Der erste Band schaffte es auf Anhieb auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Hier spielt der Polizist Henrik Oksman die Hauptrolle, der zu Beginn in einer queeren Nachtbar in Pori als Frau verkleidet feiert. Nachdem er den Club verlassen hat, findet dort ein brutaler Terroranschlag statt. Dass Oksman dort war, darf niemand wissen.
Dazu gibt es ein Bekennervideo im Internet, so dass der Fall höchste mediale Aufmerksamkeit bekommt.
Der Angriff verursacht Angst unter den Menschen in der Kleinstadt. Das Ermittlungstrio Paloviita, Oksman und Toivonen der Polizei in Pori mit Susanna Manner, ihrer neue Chefin, nimmt die Aufgabe sofort auf. Die Verantwortung muss jedoch dem höchsten Gremium in Finnland übertragen werden, dessen Vertreter sich auf dem Papier als besser erweisen als in der realen Ermittlungsarbeit.
Oksman versucht die Ermittlungen mit seinem verborgenen Wissen zu steuern und bedient sich dabei auch unkonventioneller Methoden.
Zu Zwischenfällen kommt es beim Gedenkmarsch an die Opfer des Angriffs durch die extrem rechte Gruppe Weißer Orden.
Dass hier ein Serientäter am Werk ist, wird vermutet.
Zunächst scheint es, dass sich die Ermittlungen in einer Sackgasse befinden.Mitten in einer strafrechtlichen Untersuchung stellt sich heraus, dass zwei Zeugen Jehovas, Vater und Sohn, verschwinden. Als sie Zusammenhänge zu dem Attentat zeigen, beginnt sich das Rätsel zu entwirren.
Die Themen des Buches sind vielfältig, Neben anthropologischen Fragen werden die finnische Gesellschaft, die extreme Rechte, die Rechte von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten oder das Christentum behandelt. Aus diesen Themen schafft Tuominen eine gute Detektivgeschichte, die auch das Privatleben der Hauptfiguren, also der Ermittler thematisiert. Die große Stärke des Buches sind aber die Beschreibungen von den verschiedenen Charakteren. Es gibt viele Darstellungen von menschlichen Abgründen und Gewalt, dies sollte man vorher wissen.
Buch 6
Andreas H. Drescher: Mein alter Schwarzfernseher, Edition Abel, Saarlouis 2022, ISBN: 978-3-98207352-1, 24,90 EURO (D)
Diese Erzählungen von Andreas H. Drescher, freier Autor und Künstler aus dem Saarland, bedienen sich der Form der literarischen Groteske, die zwischen dem Märchenhaften, dem Politischen und dem Erotischen angesiedelt sind. Die Form ironisiert den Ablauf eines Fernsehabends aus seiner Kindheit, der mit der Märchenstunde beginnt und über Tagesschemen und Schmonzetten bis hin zum Nachtprogramm reicht. Die Texte werden in Bezug zu den Werken der Malerin Heike Puderbach gesetzt, deren Bilder mit ebenso viel Biss zwischen Bizarrem, Kindlichem und Politischem oszillieren.
Am Anfang findet sich eine Vita mit den wichtigsten bisherigen Werken Dreschers.
Die kurzen Erzählungen sind nach Themenbereichen, die sich am Tagesablauf orientieren, sortiert: Märchenstunde ab Sonnenaufgang, Boulevardmagazin, Tagesschemen, die große Schmonzette und zum Abschluss das Nachtprogramm.
Danach gibt es noch ein Glossar, das Fremdwörter erläutert oder diese in einen Zusammenhang bringt.
Das Buch ist voll von Anspielungen auf literarische Szenen, Personen und Werke, historische Ereignisse und kulturgeschichtliche Phänomene. Märchen- und Sagengestalten werden neu erlebbar. Dort wird die breite Bildung des Autors ausgestreut.
Die Ausrichtung der kurzen Episoden wechselt häufig zwischen komischen, tragisch-traurigen, verträumten und auch einigen anarchistischen Passagen. Das Spiel mit Sprache wird geschickt zum Erzeugen von Atmosphäre genutzt. Es werden auch immer wieder Perspektivwechsel eingestreut. Die Verbindung zwischen Realität und Phantasie verschwimmt, ein wenig erinnert dies an Alban Nicolai Herbsts Roman: Wolpertinger oder Das Blau.
Ein schräges Buch, das Freuden von skurriler, anspruchsvoller und alternativer Literatur bestimmt zusagen würde.