Neuerscheinungen Kultur und Sachbuch

08.01.21
KulturKultur, TopNews 

 

Buchtipps von Michael Lausberg

Buch 1

Marcel Atze/Tanja Gausterer (Hrsg.): Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne. Leben und Werk, Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2020, ISBN: 978-3-7017-3520-4, 34 EURO (D)

Felix Salten ist in der heutigen Zeit meist als Verfasser des Bestsellers „Bambi“ (1922) bekannt. Dies ist nur eine Reduktion ist und entspricht seinem vielschichtigen Leben und Werk entspricht: „Er war ein umtriebiger und vielseitiger Mensch, der mit viel Energie und Verve in verschiedenen Wirkungsbereichen aktiv war – als Buch- und Theaterautor, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker, (rasch gescheiterter Theaterregisseur), aber auch als Funktionär und Netzwerker, Tierschützer und passionierter Jäger oder als ‚Frauenheld‘ und Familienmensch.“ (S. 7) Als wichtige Figur des „Jung Wien“-Kreises war Salten Teil der literarischen Moderne seiner Zeit. Matti Buntel vom Wien Museum bezeichnet ihn in seinem Vorwort als „vielleicht sogar die wichtigste Person der Wiener Moderne.“ (S. 9) Er hinterließ ein großes Korpus an Literatur, was auch damit zu erklären ist, dass er von seinem Schreiben leben musste.

Anlässlich seines 75. Todestags rückt der Wiener Tausendsassa als prägender Akteur der Zeitgeschichte, der Monarchie, Erste Republik, Diktatur und Exil sowie zwei Weltkriege erlebt hat, ins Rampenlicht. Die gleichnamige Ausstellung im Wien Museum und dieser Begleitband präsentieren auf Basis seines nun zugänglichen Nachlasses Leben und Werk von Salten jenseits der „gängigen Klischees rehäugiger Prostitution“ gänzlich neu: (…) einen Künstler ersten Ranges, dessen wahre Bedeutung sich erst in unserem Jahrhundert wirklich zu erschließen beginnt.“ (S. 10)

Felix Salten wurde, sein bürgerlicher Name war Siegmund Salzmann, in eine ungarisch jüdische Familie hineingeboren. Er fand schnell Gefallen am Schreiben und schloss sich den Vertretern des Jung-Wien-Kreises um Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Karl Kraus an. In seinen ersten literarischen Versuchen schildert er den Erfahrungsraum der Großstadt. 1894 wurde er Theaterreferent der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ und schrieb dort bevorzugt Kritiken. Es kam dann zum Zerwürfnis mit Kraus, der Salten literarisch Knüppel zwischen die Beine warf. Dennoch kam Salten bald in den Genuss großbürgerlicher Kreise und war Gast bei den Habsburgern. Nach der Jahrhundertwende schrieb Salten für „Die Zeit“ aus Wien und berichtete dort über Hofskandale, wobei er sich auch prominente Feinde machte. Er entwickelte sich zu einem der prominentesten Journalisten seiner Zeit. Außerdem schrieb er eine Reihe von Porträts über die Herrscher Europas, worin er sich zwar über deren Eigenheiten mokierte, aber kein Verfechter der Demokratie war.

1899 schrieb er das Bühnenstück „Der Gemeine“, das in Österreich wegen seiner antimilitaristischen Haltung erst 1919 aufgeführt werden durfte. Theodor Herzl stand er positiv gegenüber. Er schrieb 1899/1900 einige Artikel für Herzls Zeitschrift „Die Welt“. 1901 gründete Salten das Jung-Wiener-Theater „Zum lieben Augustin“, wo er moderne Darstellungsweisen mit Musik, Lyrik, Tanz und Raumkunst verknüpfte. Es brachte jedoch wenig Erfolg und musste bald wieder schließen. Dennoch gab er die Idee nicht auf: 1906 gründete er in Wien das Kabarett „Nachtlicht“.

Nach einem kurzen Intermezzo als Chefredakteur der „B.Z. am Mittag“ und der „Berliner Morgenpost“ kehrte er aus Berlin wieder nach Wien zurück und arbeitete wieder für „Die Zeit“. Er entwickelte sich kulturell weiter: Er schrieb drei Libretti, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg, und stieg mit seinem Premierenfilm „Der Shylock von Krakau“ in die Branche ein. Er wechselte zum „Fremdenblatt“, der Zeitung des Außenministeriums, und schrieb nebenbei auch für den „Pester Lloyd“, das „Berliner Tageblatt“ und für die „Neue Freie Presse“.

Den Ausbruch des 1. Weltkrieges kommentierte er mit patriotischen Artikeln, im weiteren Verlauf schwenkte er zum Kriegsgegner um. Nach der Einstellung des „Fremdenblatts“ 1919 übernahm Salten das Sonntagsfeuilleton der „Neuen Freien Presse“. Als Romancier veröffentlichte er im Zsolnay Verlag einige Bestseller. 1923 veröffentlichte er die beiden Tiergeschichten „Der Hund von Florenz und Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“, für die er heute noch bekannt ist.

Seine politischen und weltanschaulichen Ansichten schwankten zwischen Sozialdemokratie und konservativen Katholizismus. Er übernahm 1927 die Präsidentschaft des österreichischen P.E.N-Clubs, nach einer Debatte um Nazi-Deutschland trat er im Juni 1933 zurück. Von 1930 bis 1933 wirkte Salten noch an fünf Tonfilmen mit, danach zog er sich mehr aus der Öffentlichkeit zurück und widmete sich Tiergeschichten. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurden seine Bücher in Nazi-Deutschland verboten. Er erlebte die Okkupation 1938, blieb jedoch zunächst von Repressalien verschont. 1939 siedelte er aus Angst vor Verfolgung in die neutrale Schweiz über, durfte jedoch nicht journalistisch arbeiten. Dort verbrachte er abgesehen von den Rechtsstreitigkeiten um „Bambi“ beschaulich seine letzten Lebensjahre, bevor er 1945 in Zürich starb.

Dies wird in vier großen Teilen dargestellt. Im ersten Teil geht es um seine biografischen Stationen. Danach werden seine Netzwerke und Beziehungen zu Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, dem Verlegerehepaar Hedwig und Samuel Fischer, seinem Verleger Paul Zsolnay und seine PEN-Club- Präsidentschaft beleuchtet. Anschließend wird sein literarisches und journalistisches Werk vorgestellt. Seine wechselvolle Arbeit als Journalist, seine frühen Novellen, seine literarischen Beiträge zur Moderne-Diskussion der 1920er Jahre, seine Tierbücher und seine Novelle „Albertine“ sind dabei Schwerpunkte. Außerdem geht es um das ihm zugeschriebene Werk „Josefine Mutzenbacher“ und den Rechtsstreit seiner Erben. Seine Beziehung zu den Künsten rundet dies ab. Dabei werden seine Liebe zum Theater, seine Gründung des Jung-Wiener-Theater „Zum lieben Augustin“, seine Hinwendung zur Musik, seine Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst seiner Zeit und sein Filmengagement skizziert.

Im Anhang findet man noch ein Verzeichnis der ausgestellten Objekte, einen Abbildungsnachweis, ein Verzeichnis der Beiträger und ein Personenregister.

Verschiedene Verfasser stellen in diesem Begleitband sehr ausführlich in einzelnen Beiträgen und zeitgenössischen Illustrationen das bewegte Leben und das Werk von Felix Salten dar. Seine Tierbücher „Der Hund von Florenz und Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ stellen nur einen Randaspekt dar, gewürdigt wird zu Recht das vielschichtige Lebenswerk und die Begabungen von Felix Salten. So entsteht ein Panorama, das das Bild eines Multitalentes in kultureller Hinsicht transportiert und bislang eher unbekannte Facetten freilegt.

 

Buch 2

Andreas Rost 3. Oktober 90, Wasmuth & Zohlen, Berlin 2020, ISBN: 978-3-8030-3412-0, 24,80 EURO (D)

Zum 30. Jahrestag des 3. Oktober 1990 präsentiert das Kupferstich-Kabinett erstmalig die Fotoserie "Wiedervereinigung" von Andreas Rost Die Aufnahmen sind in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 während der Feierlichkeiten zur deutschen „Wiedervereinigung“ zwischen Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude in Berlin entstanden. Eine größere Gruppe von Fotografien zeigt Porträts der Teilnehmenden. 30 Jahre später widmet sich Andreas Rost erneut jenen Momenten, die sich unwillkürlich in seine Bilder eingeschrieben haben, indem der Künstler die Fotografien durch eine Serie von Montagen aus vergrößerten Bildfragmenten der Originalaufnahmen ergänzt: (…) das Auffinden der alten Negative aus dem Jahr 1990 und ihre digitale Bearbeitung fördert nicht nur die eigentlichen Bildmotive zutage, die als schnelle Erkenntnis des Fotografen zu Bildern umgesetzt wurden, sondern auch die Randmotive – das, was zufällig mit ins Bild gekommen ist. (…) Und er hat diese Randszenen direkt an- und aufeinander geschnitten, ganz wie eine Collage der 1920er Jahre oder wie ein fotografisches Storyboard eines Film noir.“ (Rolf Sachsse)

Dies ist Nachtfotografie mit starkem Blitz und Schwarz-Weiß-Filmen höherer Empfindlichkeit. Die Bilder sind aus nächster Nähe gemacht, Rost ist mittendrin in der Masse der Feiernden. Viele Porträtaufnahmen sind dabei. Es gibt verschwimmende Gesichter der Masse, ein paar Menschen haben Augenkontakt mit der Kamera. Die meisten sind aber im Augenblick und ihren Gefühlswelten versunken oder einfach schon betrunken und nehmen die Tatsache, dass sie fotografiert werden, nebenbei wahr.

Es werden andächtig-ergriffene Menschen gezeigt, fröhliche, aber auch aggressiv-entschlossene mit dem Ausdruck „Wir sind wieder wer“, wo der Sozialismus besiegt ist und nur noch Deutschland zählt. Vorboten für künftige Verhältnisse, wo Chauvinismus und Neonazismus hunderte Tote auf dem Gewissen hat.

Man sieht Feierdevotionalien wie Deutschlandfahnen, Bierbüchsen, Sektflaschen, Leuchtfackeln oder einen Aufkleber „Berlin 3.Okt. 90“ an der Brust eines Mannes. Reste von DDR-Symbolen vermischt mit gesamtdeutschem Pathos in Gestalt der BRD-Flagge. Skurrile Aufnahmen wie der sich im Jackett fein gemachte ältere Herr, der auf einer Trompete spielt, sind die Ausnahme.

Die Bilder werden eingerahmt durch ein kurzes Vorwort und ein Kommentar von Rolf Sachsse.

Die Emotionen und ggf. Erinnerungen des Betrachters aus der Sicht des Heutigen werden auf jeden Fall geweckt. Wie diese aussehen, sind eng mit der Bewertung der Bedeutung des 3.10.1990 zusammen: „Wiedervereinigung“, „Beitritt“, Sehnsuchtsort Deutschland, Sieg im Kampf der Systeme, Aufbruch in eine neue Zeit, Überwindung von Mauern, Hoffnung auf eine bessere Zukunft im kapitalistischem Paradies, Ende der DDR, Demokratie, Angst vor neuem Faschismus, Deutschtümelei, Konterrevolution, Triumphzug der Bürgerrechtsbewegung der DDR oder eine historisch-erhabene Feierstunde als Zeugen einer der großen Umwälzungen in der deutschen Geschichte.

Buch 3

Friedrich Merz: Neue Zeit. Neue Verantwortung. Demokratie und soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert, Econ, Berlin 2020, ISBN: 978-3-430-21044-7, 22 EURO (D)

In diesem Buch stellt Friedrich Merz seine inhaltlichen Positionen für die nähere Zukunft auf pragmatischer Grundlage vor. Er beschäftigt sich mit den Lehren der aktuellen Pandemie und den Chancen der Krise. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verbindung der Marktwirtschaft mit Klimaschutz. Das wohl wichtigste Kapitel folgt danach: seine Vorstellungen von „Deutschland 2030“. Dabei geht er auf die Innovationen, eine offene Gesellschaft, Digitalisierung, Steuern, Sozialstaat, Familienpolitik, Einwanderung und Integration, Bildung, Arbeitswelt, Rentenpolitik. Außerdem formuliert er die wichtigsten Punkte eines neuen Generationenvertrages. In Konkurrenz zu China und Russland benennt er auch die Leitlinien für ein „weltpolitikfähiges“ Europa als neue Hegemoniemacht. Was die CDU im Markenkern ausmacht und seine Vorstellungen von Konservatismus runden das Buch ab. Im Anhang gibt es noch ausgewählte Literatur.

Merz will bis zum Jahre 2022 zum Regelwerk der Schuldenbremse zurückkehren und die öffentliche Verschuldung bis 2030 auf unter 60% des Bruttoinlandsproduktes runterfahren. Für selbstgenutztes Wohneigentum will er die Grunderwerbssteuer abschaffen und für die ersten zehn Jahre die Grundsteuer.

Er spricht sich von der BRD als Einwanderungsland aus, Ressentiments gegenüber Muslimen und Migranten als Straftäter füllen jedoch mehrere Seiten. Er benutzt nicht das Wort der „deutschen Leitkultur“, sondern benennt die Grundlage des Zusammenlebens als „European Way of Life“, dem sich außereuropäische Menschen unterzuordnen hätten. (S. 123) Und: „Zu viele muslimische Migranten haben ein Problem mit der Werteordnung unseres westlichen europäischen Lebensstils“ (S. 117) Das Feindbild Islam ist omnipräsent.

Merz wünscht sich in der CDU „einen offenen, modernen Konservatismus, der Optimismus und Mut zur Zukunft ausstrahlt“. (S. 226) Dies bedeutet: „privat vor Staat, das Individuum vor das Kollektiv.“ (S. 227) Dabei kritisiert er heftig, ohne Namen zu nennen, Versäumnisse in der eigenen Partei: „Dass der Konservatismus in Deutschland derart in Verruf geraten ist, liegt auch daran, dass die CDU es über viele Jahre versäumt hat, ihn mit eigenen Botschaften positiv zu prägen.“ (S. 226) Die CDU und natürlich er selbst sieht er in der Rolle als Verantwortungsträger und Machtprinzip: „Wir sind eine Partei, die Verantwortung für Deutschland und Europa tragen will, eine Partei, die Mehrheiten erreichen möchte, um regieren zu können.“ (S. 229)

Innerhalb der eigenen Partei spricht er sich gegen eine Frauenquote aus und will stattdessen „Lösungen, die von der Parteibasis aufwärts ihre Wirkung entfalten und nicht als Maßgabe der Parteiführung von oben auferlegt werden.“ (S. 228)

In diesem Buch wird schon deutlich, wofür Friedrich Merz im Falle einer Kanzlerkandidatur oder anderer wichtiger Positionen innerhalb der CDU steht. Ein Bruch mit dem System Merkel, eine Stärkung des rechtskonservativen Flügels, wirtschaftsliberalen Forderungen, für Deregulierungen in der Wirtschaft und Privatisierungen ein, die Kürzungen von Sozialleistungen und ein weiterer Abbau von Arbeitnehmerrechten.

Weniger Bürokratie, mehr Wettbewerb in der Bildung, die Rückkehr zu Werten wie Fleiß und Leistung. die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume, mehr Technologie- und Innovationsfreundlichkeit, mehr Marktwirtschaft und Förderung von Individualität und Aufstieg wird vertreten und eine Steuerpolitik für Vermögende und der selbst genannten Leistungselite vertreten.

Dies alles lässt seine Sympathie für Positionen der FDP erkennen, gegenüber Schwarz-Grün oder einem Bündnis mit der SPD sind seine hier formulierten Grundpositionen eher nicht vereinbar. Er inszeniert sich als Macher mit einer klaren Sprache und Handlungsfähigkeit, der den Mut besitzt, eine Kurskorrektur zur aktuellen Politik der CDU/CSU durchzusetzen und Führungsqualität zu besitzen.

Das Buch ist eine Kampfansage für die Zeit nach Merkel und dient dazu, vor den bevorstehenden Wahlen im Winter 2021 und ggf. der nächsten Bundestagswahl seinen Bekanntheitsgrad zu steigern und seine Positionen einem größeren Publikum zu präsentieren. Persönliche Angriffe auf Söder, Laschet, Spahn, Merkel und andere Gegenspieler bleiben aus, es gibt nur diffus-allgemein gehaltene Kritik an der Politik der CDU/CSU der letzten Jahre. Der Blick auf die Zukunft wird benutzt, um dies zu umgehen und zu kaschieren.

Buch 4

Dendev Terbishdagva: Im Jahr des Roten Affen. Ein Nomade zwischen Jurte und Brandenburger Tor, Neues Leben, Berlin 2020, ISBN: 978-3-355-01897-5, 24 EURO (D)

Dendev Terbishdagva wurde 1956, im „Jahr des Roten Affen“, in eine kinderreiche mongolische Nomadenfamilie geboren. Nach seinem Schulabschluss studierte er Lebensmitteltechnologie an der Berliner Humboldt-Universität und arbeitete anschließend als Technologe im Fleischkombinat in Ulaanbaatar. 1988 kehrte er in die DDR zurück und arbeitete als Übersetzer und Betreuer an der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee. 1990 begann er eine unternehmerische Tätigkeit. Von 2002 bis 2004 war er Botschafter der Mongolei in Deutschland. Zurück in der Mongolei wurde er Parlamentsabgeordneter, stellvertretender Parteivorsitzender und Minister und 16 Jahre lang stellvertretender und Vorsitzender der Mongolisch-Deutschen Parlamentariergruppe.

In diesem Buch hat er seine persönlichen Erinnerungen über seiner Lebensreise aufgeschrieben mit Kultur und Geschichte der Mongolei verwoben. Am Anfang geht es auf Zuschreibungen wie Dschingis Khan ein, was die meisten Westler wohl mit der Mongolei assoziieren. Ein großer Sprung führt dann in den Herbst 1989, Terbishdagva erlebte den Mauerfall direkt mit: „Ich konnte mein Glück kaum fassen. Aus einem fernen Land eigentlich zum Lernen und Lehren gekommen, war ich Augenzeuge, wie sich Ost und West friedlich vereinigten.“ (S. 47) Die Schattenseiten dieses deutsch-deutschen Hybristaumels lernte er und seine Familie jedoch bald auch kennen: Rassistische Beleidigungen als „Schlitzauge“, der doch das Land verlassen solle, Neonazis, die seine kleine Tochter anpöbelten, ihr ins Gesicht spuckten und ihr Fahrrad wegnahmen. (S: 58)

Die Herrschaft über die Steppe, die nomadische Lebensweise und die Harmonie mit der Natur bezeichnet er als wegweisende Besonderheiten der mongolischen Daseinsweise bi in die jüngere Gegenwart. Es werden auch jede Menge kulturhistorischer Stätten  vorgestellt und man taucht tief in Traditionen und Historie ein.

Im Zuge der Revolutionen im Jahr 1989 vollzog das Land den friedlichen Übergang zu einem demokratisch-parlamentarischen Regierungssystem. Am 12. Februar 1992 besiegelte das Parlament mit der Annahme einer neuen Verfassung das Ende des kommunistischen Systems. Der Autor berichtet von den schwierigen neuen Erfahrungen mit einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem waren für viele Mongolen, Inflation und Knappheit und dem Aufbau einer demokratisch-parlamentarischen Gesellschaft, die trotz Korruption und Krisen, schon eine stabile Entwicklung genommen hat.

Terbishdagva bewertet im Rückblick die Phase des Sozialismus und die Volksrepublik Mongolei differenziert. Die Sowjetunion und auch von anderen sozialistischen Ländern wie der DDR, Ungarn, Polen, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien gaben in diesen 70 Jahren 11 bis 17 Milliarden US-Dollar Kredit und Geld als Hilfeleistungen für Aufbauarbeiten und Investitionen in Infrastruktur und Entwicklung, was er in „freundlich-dankbarer Erinnerung behalten“ wird. (S. 429) Neben diesen positiven Seiten gab es die negativen: Die Freiheit der Mongolen wurde eingeschränkt, viele tausend Buddhisten und Intellektuelle waren Repressalien ausgesetzt, manche wurden ermordet. (S. 430) Über die Transformationszeit bemerkt er: „Über 70 Jahre war unser Land eine sozialistische Gesellschaft, die die allgemeinen Errungenschaften der Menschen aus der Demokratie unmittelbar umzusetzen versuchte, was ihr allerdings nicht gelang.“ (S. 432) Er sieht in der Zerstörung der Umwelt auch in der Mongolei neben demokratischer und wirtschaftlicher Entwicklung das Hauptproblem der Gegenwart.

Stationen seiner politischen Karriere in der Mongolei werden auch geschildert. Seine politische Leitung verschiedener bilateraler Kommissionen und über Beziehungen zu Russland, China und die BRD und innerpolitische Entwicklungen. Oder über seine Teilnahme der Vereidigung von Bundeskanzlerin Merkel nach der Bundestagswahl 2013.

Im Innenteil des Buches gibt es einige Farbabbildungen vor der mongolischen Botschaft in der BRD, private und offizielle Bilder aus der Mongolei oder Treffen mit Scheswig, von der Leyen oder dem Dalai Lama. Quer durch das Buch gibt es auch noch zahlreiche schwarzweiße Abbildungen.

In der vorderen Innenseite gibt es eine geografische Karte der heutigen Mongolei, in der hinteren eine des Mongolischen Großreiches im 13. Jh..

Dieses Buch sind seine persönlichen Erinnerungen seines Lebens in zwei nicht nur geografisch weit entfernten Ländern, DDR/BRD, seiner zweiten Heimat und der Mongolei. In seinem Vorwort lobt ihn Kurt Beck mit Recht als Brückenbauer zwischen den beiden Ländern. Er führt in einer Art historischen Landeskunde aus, wie sich über Zeiten und Räume hinweg verschiedene Kulturen miteinander im Austausch gestanden und sich gegenseitig inspiriert haben. So gibt es reichhaltige spannende Informationen über Geschichte, Gegenwart, Kultur, Bräuche und Traditionen eines hierzulande noch fremden Landes.

Buch 5

Kate Davies: Love addict. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020, ISBN: 978-3103-97440-9, 23 EURO (D)

In ihrem ersten Roman erzählt Kate Davies die Geschichte von Julia, die mit Mitte 20 sich eingestehen muss, dass sie seit drei Jahren keinen Sex mehr mit Männern hatte und den bisherigen auch nicht wirklich genossen hat. Sie sucht nach Möglichkeiten, um ihrem Leben einen neuen Kick zu geben und sich selbst zu finden.

Ein Date mit einem Mann endet in Desillusionen. Dies führt schließlich dazu, dass Sam kennenlernt und zum ersten Mal mit einer Frau schläft und dort den besten Sex ihres Lebens hat. In der Folgezeit streift sie als Lesbe im Londoner Nachtleben umher und taucht dort in eine neue lesbische Welt ein.

Somit beginnt ein geteiltes Leben. Tagsüber muss sie ihrem langweiligen Beamtenjob nachgehen und wahrt zuerst den Schein nach außen gegenüber ihrer Mitbewohnern Alice und Dave und ihren Eltern in Oxford. In ihrem anderen Leben geht es deutlich wilder zu bei den Lagerpartys von Hackney Wick, den queeren Swing-Tanzkursen und den BDSM-Sexpartys. Die Beziehung mit Sam hat aber auch bald einige dunkle Seiten, als sie sie näher kennenlernt.

Die Geschichte wird in der ersten Person aus einer selbstironischen und aufrichtigen Sichtweise von Julia erzählt, hat eine starke emotionale Charakterisierung und mehrere Nebenhandlungen.

Witzig, roh und überraschend offen ist dies ein zeitgenössischer Roman über eine junge Frau, die ihre Sexualität entdeckt und ihr Glück im bürgerlichen Leben bisher nicht gefunden hat. Die anfängliche Entdeckungsgeschichte, dass es im Leben mehr gibt als Ihren Job und heterosexuellen Sex, wird meisterhaft dargestellt, mit großartigen Beschreibungen der Gefühle, die ihre Charakter durchmacht, und ziemlich spannenden Geschichten über Sex, ohne den komödiantischen Geschmack zu verlieren ist im ganzen Buch verwoben.

Buch 6

Katharina Wagner/Holger von Berg/Marie Luise Maintz: Szenen Macher. Wagner Regie vom 19. Jahrhundert bis heute, Bärenreiter Verlag, Kassel 2020, ISBN: 978-3-7618-2482-4, 38,95 EURO (D)

In diesem Buch geht es um die Wagner-Interpretationen von Regisseuren, Dirigenten, Intendanten und Interpreten in Geschichte und Gegenwart. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Was darf, kann, muss Interpretation – und was nicht? Wie veränderten Inszenierungen die Sichtweisen auf Richard Wagner und auf die Geschichte?

Im ersten Essay analysiert Stephan Mösch die Entstehungsgeschichte des Jahrhundert-Rings, also die Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ von Patrice Chéreau und Pierre Boulez zum 100-jährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele im Jahr 1976, die bis heute als maßstabsetzende Arbeit in der Interpretationsgeschichte des Werkes gilt.

Heinz Tietjen war der erste Regisseur neben den Mitgliedern der Familie Wagner, der in Bayreuth mehrere Opern inszenierte.  Seine spätere Vertraute Winifred Wagner berief Tietjen 1931 zum künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele, die er von 1934 bis 1944 in Zusammenarbeit mit ihr leitete. Seine Rolle als Regisseur wird von Matthias Pasdzierny zum Glück mit kritischer Herangehensweise in Bezug auf die NS-Affinität Tietjens beleuchtet.

Danach veranschaulicht Kai Köpp die Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts. Die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient war für Richard Wagner das Paradigma für sein Konzept der „Mimin“ im Zusammenhang der „Begründung einer wahrhaft deutschen theatralischen Kunst“. Dies wird von Rebecca Grotjahn behandelt.

Wagner hatte selbst keinen Nachfolger für die Leitung der Festspiele bestimmt. Nach seinem überraschenden Tod am 13. Februar 1883 wurden sie von Cosima Wagner fortgeführt. Cosima Wagner, die ab 1886 selbst Regie führte, hatte eine strenge Vorstellung von Werktreue. 1908 übergab sie auf dringenden Rat ihrer Ärzte die Leitung der Festspiele ihrem Sohn Siegfried Wagner, der schrittweise eine Modernisierung der Aufführungen ermöglichte. 1930 starb Siegfried Wagner erst 61-jährig an einem während der Probenzeit erlittenen Herzinfarkt. Die Festspiele wurden nun von seiner Witwe Winifred übernommen.

Dies wird in den folgenden vier Essays näher beleuchtet. Allerdings nicht chronologisch, sondern unverständlicherweise in einem gemeinsamen Beitrag über die zeitlich doch so verschiedenen Cosima und Winifred Wagner.

Richard Wagner Stilbildungsschule für Sänger, Dirigenten und Instrumentalisten zur Etablierung eines „deutschen Stils“ wird von Christoph U. Meier vorgestellt.

Diskussionen mit den Herausgebern und Protagonisten der jüngeren Bayreuther Produktionen wie Tobias Kratzer, Valentin Schwarz und Paul Esterhazy werden zwischen den Essays eingeschoben. Dabei geht es um die Paradigmen- und Perspektivenwechsel der Wagner-Regie in Geschichte und Gegenwart bei den Bayreuther Festspielen und außerhalb.

Im Anhang findet man noch die Anmerkungen, Informationen über Diskurs Bayreuth 2019 und über die Autorinnen und Autoren sowie ein Personenregister.

Hier findet man eine Menge divergierender Interpretationen und Meinungen der Reflektion und Deutung der Inszenierungen der Werke Wagners Dabei geht es natürlich meist um die Inszenierungen bei den Bayreuther Festspielen, aber auch die Wagner-Inszenierungen außerhalb Bayreuths kommen zur Sprache. Wirklich brisante und spannende Themen wie das Aufführungsverbot von Wagner in Israel oder der „Germanenmythos" als Konstruktion bleiben aber weitgehend außen vor.

 

 







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