Buchtipps von Miachel Lausberg
Buch 1
Christoph Cornelißen: Europa im 20. Jahrhundert. Neue Fischer Weltgeschichte Band 7, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020, ISBN: 978-3-10-010827-2, 68 EURO (D)
Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, beschäftigt sich in diesem groß angelegten Werk mit der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.
Dabei geht er von dem Konzept der Weltregion aus und analysiert den Forschungsgegenstand mehr transfergeschichtlich: „Ältere Vorstellungen, welche die Welt in fortschrittliche und rückständige Gebiete aufgeteilt und Europa dabei ins Zentrum positioniert haben, sind nicht nur unhaltbar geworden, sondern sie haben sich auch als irreführende Rahmenerzählungen erwiesen.“ (S. 22f)
Es gehe darum, die Vergangenheit und Dynamik der Weltregion Europa im 20. Jahrhundert mit ihren unzähligen nationalen und regionalen Ausformungen sichtbar werden zu lassen, ohne darüber transnationale und globale Verflechtungen zu übergehen.
In der längeren Einleitung wird auf die Weltregion Europa, Leitfragen, Konzepte, Geschichtsschreibung und grundlegende Untersuchungen der Außen- und Raumgrenzen Europas, Umwelt und Raumwahrnehmung, Ein- und Mehrsprachigkeit, Demografie und Migration.
Das folgende Werk besteht aus sechs Teilbereichen. Zunächst wird der Untergang des alten Europas im Kontext des Ersten Weltkrieges behandelt. Die unmittelbare Vorgeschichte, der Ausbruch und Militär, Wirtschaft und Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, die Pariser Friedensverträge, die Neugliederung Europas und die weltweite Erinnerungskultur sind dabei Schwerpunkte ebenso wie die bolschewistische Revolution. Danach wird die Zeit bis 1939, überschrieben mit der Epoche der großen Krise, behandelt. Die antikolonialistischen Bestrebungen in europäischen Imperien, die Militarisierung der Politik, Legitimationskrisen, das Verhältnis von Demokratien und Diktaturen, die Krise des Kapitalismus und Antisemitismus werden dort behandelt.
Europa im Zweiten Weltkrieg steht danach im Mittelpunkt. Die Entfesselung zu einem totalen Krieg, die einzelnen Etappen, Besatzungsherrschaft, Kollaboration und Widerstand, der Holocaust und Kriegsverbrechen kommen dort zur Sprache. Flucht und Vertreibung in Europa bis 1950 und die Pläne für ein neues Europa werden ebenfalls angesprochen. Der Wiederaufbau und die Konsolidierung Europas folgen danach. Schwerpunkte sind dabei die Dekolonisation und die Provinzialisierung Europas, die Spaltung Europas, der Kalte Krieg, die Europäisierung in Westeuropa von oben und unten, Transformation der Gesellschaft und Wirtschaftsaufschwung in West- und Osteuropa.
Die Zeit bis zum Ende des Kalten Krieges wird dann behandelt. Koexistenz, atomare Bedrohung, Erweiterung und Vertiefung der westeuropäischen Integration, der politische Systemwandel in Osteuropa, die Transformation der politischen Kulturen in Westeuropa, Ethnizität, wirtschaftliche Krisen, Kultur und Europäisierung sind die Hauptaspekte. Europa nach dem Kalten Krieg mit den Revolutionen 1989/90, EU-Erweiterung, dem Zerfall Jugoslawiens und der Krieg, Wandel politischer Kulturen in Ost- und Westeuropa, Transformationsprozesse, Migration, sozioökonomischer Wandel, kulturelle Aufbrüche bilden den Schlusspunkt.
Am Ende wird die Weltregion im globalen Kontext betrachtet. Dabei geht es um Globalisierung, Post-Kolonialismus, Gesellschaft, Wohlfahrt, Recht, Religion, Konfession und nationale Identität, Europadiskurse und Erinnerungskulturen.
Im Anhang findet man noch die Anmerkungen, ausgewählte Literatur, eine Zeittafel, ein Abkürzungsverzeichnis, den Abbildungsnachweis und ein Personen- und Ortsregister.
Cornelißen geht von drei „Kraftzentren“, also zentralen Bestimmungsmerkmalen aus. Dies sind erstens der moderne Nationalismus und der auf ihm aufbauende Nationalstaat, dem für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert eine große Bedeutung zukam. Die Stabilität dieser politischen Ordnung beruhte zum einen darauf, dass seine Grenzkontrollen eine Schließung des geografischen Raumes nach außen, zum anderen eine Schließung nach innen durch die Codierung von Zugehörigkeit vornahmen. Zweitens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Aufkommen einer zunächst industriegesellschaftlich, dann immer stärker von Dienstleistungen überformten Moderne. Drittens die Wahrnehmungen und Imaginationen von Europa. Diese wirkten ihrerseits als ein weiterer Motor der Veränderungen Europas bis hin zu einem Raum, in der politische und gesellschaftliche Strukturen konvergierten und darüber hinaus einen gemeinsamen Handlungsraum ausbildeten. Sämtliche Deutungen und Visionen von Europäzität, in der die europäischen Gesellschaften ihre je eigene Geschichte eingeschrieben haben und werden, geben gleichzeitig ein treibendes Moment der Veränderungen in der Weltregion ab.
Das Zentralproblem jeder heutigen Weltgeschichte ist ihre eurozentrische Befangenheit und die aus dieser Sicht vermittelte Geschichte, dies wird mit Recht als Basis dieses Bandes benutzt und auch in den einzelnen Teilbereichen gut umgesetzt. Das Buch schafft es, eine Metaebene der europäischen Geschichte als Idealtypus zu etablieren, und Synthesen bzw. Syntheseentwürfe zu entfalten. Zudem wirkt es der zunehmende Fragmentierung der Geschichtswissenschaft und erst recht oft einseitigen Nationalgeschichten entgegen.
In diesem Band stehen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur und nicht zuletzt Kriege, Krisen und Konflikte im Mittelpunkt. In weiten Teilen schafft es der Autor, die einzelnen Perioden gleichmäßig zu gewichten und diese zusammenfassend darzustellen, ohne den Sinn zu verstellen. Was jedoch viel zu kurz kommt, ist eine Geschichte der ökologischen Krise verbunden mit der zunehmenden Industrialisierung und Technisierung sowohl in den sozialistischen Staaten als auch im kapitalistischen Europa. Auch das Jahr 1968 mit verschiedenen Aufbrüchen (Studentenbewegungen, Prager Frühling, Breschnew-Doktrin, die März-Unruhen in Polen usw.) zu gesellschaftspolitischer Veränderung hätte mehr herausgestellt werden sollen.
Buch 2
Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, S. Fischer, Frankfurt/Main 2020, ISBN: 978-10-397048-7, 23 EURO (D)
Die Philosophin Eva von Redecker geht in diesem Buch auf Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt ein, die sich für eine partizipativere, gerechtere, ökologischere und demokratischere Gesellschaft einsetzen. In diesem Zusammenhang werden Extinction Rebellion, Black lifes matter oder Fridays for Future analysiert. Die gemeinsame Klammer dieser Bewegungen sieht sie im Kampf gegen den Kapitalismus, der natürliche und soziale Lebensgrundlagen zerstört und die Suche nach einer neuen Form der Wirtschaft und Gesellschaft, das sich am Gemeinwohl orientiert.
Die Rahmenbedingungen der Gesellschaft sollte nicht mehr von den Märkten und damit den Finanzkonzernen diktiert werden, sondern das Allgemeinwohl wieder an erster Stelle stehen und damit eine demokratische Wirtschaft ermöglicht werden.
Große Finanzkonzerne auch mitschuldig sind an der Zerstörung der weltweiten ökologischen Grundlagen. Die demografische Zunahme und die Technisierung sorgten dafür, dass die Ernährung nur noch unter effizienten, kurzfristigen Gesichtspunkten gesehen wurde. Deren Planung oblag nun Staaten oder großen Firmen, die normale Bevölkerung verlor immer mehr von ihrer Entscheidungskompetenz über die eigene Ernährung und ihr Leben im Allgemeinen.
Der Einsatz von Herbiziden und Pestiziden sorgte für die landwirtschaftliche Krise der Gegenwart. Eine einseitige Monokultur von Pflanzen bewirkt auch eine einseitige Ernährung.
Wie es gelingen kann, mit einem radikalen Umdenken und der Unterstützung der Wissenschaft wieder mehr Artenvielfalt herzustellen, um auch die Klimakrise zu meistern, wird im letzten Kapitel deutlich. Eine Vielfalt von Pflanzen, gesunde Böden mit Humusaufbau und den Aufbau von Agro-Forst-Systemen mit Bäumen, die C02 binden können, werden als kurzfristige Lösungen gefordert. Dies wird der vehementen Kritik an Lobbyinstitutionen und Konzernen verbunden, die dem im Weg stehen.
Dass der Kapitalismus und seine Weltsicht einen großen Anteil an der heutige Klimakrise hat, ist auch unbestritten. Eine sozial-ökologische Wende ebenfalls. Dass sich in der internationalen Politik wenig bewegt hat und die Anstrengungen wesentlich erweitert werden müssen auch. Da ist der Ruf nach radikaleren Maßnahmen schon gerechtfertigt.
Es bleiben aber Fragen: Wie diese Revolution in Einzelheiten aussehen soll, wie dann Entscheidungskompetenzen und Maßnahmen aussehen sollen, wird nur rudimentär erläutert.
Dennoch ist es eines der besseren Bücher über Kapitalismuskritik. Es bringt die ökologische Krise und soziale Ungleichheit zusammen und will hin zu einem Wirtschaften in einer Postwachstumsgesellschaft. Die hohe Gefahr von globalen Unternehmen für die Gesellschaft liegt nicht nur in einer zu hohe Marktkonzentration und der damit verbundene Verlust von demokratischer Kontrolle, sondern auch in deren Einfluss auf politische, gesellschaftliche Entscheidungsträger und letztlich auf den Alltag von vielen Menschen dieses Planeten.
Buch 3
Robert M. Zoske: Sophie Scholl. Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen, Propyläen Verlag, Berlin 2020, ISBN: 978-3-549-10018-9, 24 EURO (D)
Der evangelische Pfarrer und Historiker Robert M. Zoske beschäftigt sich in dieser groß angelegten Biografie vor allem mit dem persönlichen Werdegang und vom Wandel vom der BDM-Gruppenführerin hin zur überzeugten Nazigegnerin und Widerständlerin. Dazu wertete er bislang unveröffentlichte Dokumente aus.
Sie wurde in ein christliches Elternhaus hineingeboren, war als Kind unsicher und scheu. Schon früh begann sie sich für Bücher zu interessieren. Zu Beginn der NS-Herrschaft glaubte zunächst an das propagierte Gemeinschaftsideal und trat 1934 dem BDM bei. Sie wurde sogar Scharführerin und führte in dieser Funktion Mutproben und Härtetests durch.
Die Eltern von Sophie waren von der Begeisterung ihrer Kinder für die Hitlerjugend dagegen wenig angetan. Die beiden Christen lehnten die Haltung der Nazis ab, insbesondere die Verachtung der Juden, und versuchten, ihre Kinder aufzuklären. Hans, Sophie und ihre Geschwister wachsen also mit den christlichen Werten auf der einen Seite und mit der Propaganda der Nazis auf der anderen Seite auf. In den weiteren Jahren bekommt Sophie Scholl vor Augen geführt, wie die Juden immer schlimmer schikaniert werden, nicht mehr arbeiten dürfen, verfolgt werden. Ihre Zweifel werden immer größer, je älter sie wird. Schließlich wandte sie sich zögerlich der Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929 teil, einem von Eberhard Koebel gegründeten Jugendbund, zu. Im Herbst 1937 wurde Sophie zusammen mit ihren Geschwistern für einige Stunden verhaftet, weil ihr Bruder Hans wegen fortgesetztem Engagement in der Bündischen Jugend verfolgt wurde.
Das führt auch im BDM zu Konflikten. 1938 muss Sophie sogar ihren Rang als Gruppenführerin abgeben. Schließlich treten Sophie und Hans Scholl Ende der 1930er Jahre aus den jeweiligen Organisationen aus.
Als sie nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, den sogenannten Reichsarbeitsdienst leistet, in der Landwirtschaft und im Haushalt von Familien helfen muss, überdenkt sie ihr Leben, ihren Glauben und ihre Einstellung zum Nationalsozialismus.
Ihre Lektüre der Werke von Augustinus und Georges Bernanos fand sie dort Orientierung für ihre Lebensfragen. Ihre Hinwendung zum Religiösen war auch eine Art Fluchtpunkt. Als sie 1941 im NSV-Kinderhort in Blumberg, arbeitete, entwickelte sich eine sozial und politisch motivierte Haltung.
Diese gipfelten dann an der Münchener Universität in den Widerstandsaktionen der Weißen Rose. Diese schon bereits bekannten Ereignisse werden durch zahlreiche Briefe von Sophie Scholl und ihren Freunden im Original begleitet.
Sophie Scholl ist meist für ihren Widerstand gegen das NS-System und ihre anschließende Hinrichtung bekannt. Hier erfährt man viel über die Stationen ihres Lebens und ihrer geistigen Welt, die als junge Frau stark von christlichen Überzeugungen und einem religiösen Menschenbild geprägt war. Der Autor taucht stark in ihre religiöse Gedankenwelt ein und ihre philosophische Lektüre ein. So wird das Bild einer in sich gekehrten, empfindsamen, reflektierenden und belesenen junge Frau deutlich, die sich zwischen den religiösen Überzeugungen und der ideologischen Propaganda der Nazis entscheiden musste und den richtigen Weg gewählt hat.
Buch 4
Hiram Kümper: Der Traum vom ehrbaren Kaufmann. Die Deutschen und die Hanse, Propyläen Verlag, Berlin 2020, ISBN: 978-3-549-07649-1, 28 EURO (D)
In der Mitte des 12. Jahrhunderts schlossen sich deutsche Kaufleute zu Genossenschaften zusammen. Sie legten damit den Grundstein zum Hansebund, der ihre Freihandelsinteressen über Städte- und Ländergrenzen hinweg vertraten und dabei selbst bzw. die Städte zu Reichtum und Macht verhalfen. In den Zeiten ihrer größten Ausdehnung waren beinahe 300 See- und Binnenstädte des nördlichen Europas in der Städtehanse zusammengeschlossen. Die Farben der Hanse finden sich heute noch in den Stadtwappen vieler Hansestädte.
Der Historiker Hiram Kümper erzählt hier die Geschichte der Hanse vom 12. bis zum 17. Jahrhundert und legt die Nachwirkungen der Hanse bis heute offen. Dabei geht er kritisch auf das Bild des ehrbaren hanseatischen Kaufmanns ein, das bisweilen heute immer noch vorherrscht.
Kümper sieht den „Ehrbaren Kaufmann“ als „ökonomischer Kitsch“ und „Emotions- und Affektakkumulation“ (S. 10) und betont stattdessen den finanziellen Charakter der hanseatischen Kaufleute statt einen ethischen Hintergrund.
In den folgenden Kapiteln wird chronologisch die Geschichte der Hanse erzählt. Angefangen von ihren Vorläufern von einer aus der Not geborene Zweckgemeinschaft von Handelsreisenden und der Gründung wird herausgearbeitet, wie die Hanse war eine europäische Macht, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke gleichzeitig eine bedeutende politische und im Bedarfsfall auch militärische Stärke repräsentierte. Ihr Einfluss war so groß, dass die Hanse über mehrere Jahrhunderte die Handelsgeschicke prägte. Eine wichtige Grundlage dieser Verbindungen war die Entwicklung des Transportwesens, insbesondere zur See, weshalb die Kogge zum Symbol für die Hanse wurde.
Neben den Forderungen der Hanse wie Freiheit des Warenhandels, des Verkehrs entwickelte sie eine eigene Kultur, Geisteshaltung geprägt von religiöser Toleranz. Die Verbindung zum feudalen System, die Auslandsstützpunkte der Hanse, die Warenwelten, rechtlichen Grundlagen, kriegerische Konflikte und die Hansetage werden auch behandelt. Die Nachwirkungen in der Geschichte von der bürgerlichen Hansegeschichtsschreibung, über die Geschichtspolitik im Kaiserreich, im NS-Staat bis zur heutigen Erinnerung werden gegen Ende auch noch beschrieben.
Dieser zunächst reine Wirtschaftsverbund und spätere politische Macht durchaus ein wichtiges Stück deutscher und europäischer Geschichte.
Eine Vielzahl von Illustrationen in Schwarz-weiß trägt zur Lebendigkeit des Buches bei.
Der Anmerkungsapparat und das Quellen- und Literaturverzeichnis ist sehr umfangreich, ein Register zum Nachschlagen ist auch vorhanden.
Das Buch liefert einen guten Einstieg für Einsteiger in Ursprung, Verbreitungsgebiet, Organisation, Entwicklung und Gründe für den Niedergang der Hanse. Dabei geht das Buch sowohl auf die einzelnen Entwicklungsphasen ein als auch auf konkrete Beispiele von Städten oder Personen. Die Zahl von geografischen Karten ist etwas dünn bemessen. Die Stärke des Buches liegt darin, dass es aufzeigt, dass die Hanse nicht nur eine reine Wirtschaftsgemeinschaft war, sondern auch politisch, militärisch und kulturell ein wichtiger Faktor des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Europa war.
Buch 5
Klaus Wallendorf: Zwischen Mundstück und Mikrofon. Aus den Papieren eines philharmonischen Hornisten, Galiani, Berlin 2020, ISBN: 978-3-86973-231-4, 20 EURO (D)
Früher hat Klaus Wallendorf, eigentlich als Hornist bei den Berliner Philharmonikern angestellt, dort mit seinen Ansagen, Moderationen, Zwischengedichten und komischen Einlagen für Stimmung abseits der musikalischen Darbietungen gesorgt. Nach seinem Ausstand ist er immer noch mit der »Kleinen Lachmusik« und »German Brass« auf Tournee. Dies ist ein humoriger biografischer Rückblick auf ein Leben in der Welt der Musik, der auch einige seiner Beiträge versammelt. Dies wird durch Illustrationen von F. W. Bernstein und Heike Drewelow begleitet.
Sein 15-monatiges Engagement beim Heeresmusikkorps 7 in Düsseldorf-Hubbelrath, der Alkohol als Gestaltungshilfe und die wenigen künstlerischen Höhepunkte dieser Lebensphase. Er beschreibt den Reiz von Konzertreisen in die Sowjetunion in den 1970er Jahren, erzählt Anekdoten im heute litauischen Kaunas und von seinen Kollegen Waldemar und Eberhard und dortigen Pannen. Aber auch Reiseberichte seiner Japan-Tournee, Argentinien, Oslo oder Kopenhagen kommen zur Sprache.
Zwischendurch erfährt man immer wieder Hintergründe über Stücke aus der Musikwelt, einige Anekdoten aus der Musikgeschichte und wie ein Konzertensemble überhaupt funktionieren soll und wie es dennoch funktioniert. Der Unterschied zwischen Hornist und mexikanischen Evergreens, die musikalische Umrahmung eines Kongresses von Kieferorthopäden im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie wortreich auszuschmücken und andere Moderationen werden ebenfalls ausgebreitet. Und ganz nebenbei lernt man auch noch den Komponisten Franz von Suppé kennen.
Dies ist eine biografische Rückschau auf eine heitere Art, die nicht nur von Anekdoten über seine Musikerkollegen der Berliner Philharmoniker oder intimer Einblicke in einen Musikbetrieb bietet, der sonst als spröde und langweilig gilt. Unterhaltsam ist das Buch allemal, auch wenn man zum Verständnis einiger Anspielungen und Anekdoten ein wenig musikalischen Sachverstand oder Hintergrundwissen besitzen sollte.
Buch 6
Gerhard Schindler: Wer hat Angst vorm BND? Warum wir mehr Mut beim Kampf gegen die Bedrohungen unseres Landes brauchen, Econ Verlag, Berlin 2020, ISBN: 978-3-430-21038-6, 22 EURO (D)
Der Autor war von Dezember 2011 bis Juni 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes und ist seitdem als Unternehmensberater und Lobbyist tätig. Dieses Buch ist eine Generalabrechnung mit dem angeblichen desaströsen Zustand des BND und anderer Sicherheitsdienste. Die Politik hätte sich nicht darum gekümmert, die Sicherheitsapparate auf den modernsten Stand zu bringen. Bürokratische Hemmnisse kommen noch hinzu.
Es wird suggeriert, das Land sei praktisch schutzlos einer ganzen Armada von Feinden ausgeliefert. Dazu zählt er China, die Türkei und andere autokratische Regime. Russland, dessen Führung für die Morde im Kleinen Tiergarten und in England nicht zu Unrecht verantwortlich gemacht wird, könne mit ihrem Waffenarsenal Mitteleuropa gefährden. Den verschiedenen Formen des Terrorismus sei die BRD auch nicht gewachsen. Cyberkriminelle und Industriespionage auf virtuellem Wege wurden laut Schindler ebenfalls unterschätzt.
Die BRD könne sich auch nicht mehr auf das Bündnis der NATO verlassen. Der Abzug der US-Truppen aus der BRD, Streit mit Frankreich in militärischen Fragen, der Rückzug Großbritanniens als außenpolitischer Akteur und die fehlende Aufrüstung des Verteidigungsbündnisses in den letzten Jahrzehnten gibt es er als Indikatoren für seine sicherheitspolitische Dystopie. Die Absenkung der Verteidigungsausgaben in den letzten 20 Jahren wirft er konkret der Politik vor, was sich nun rächen würde. Der Zustand des BND sei marode und den Erfordernissen unserer Zeit nicht mehr gewachsen.
Nach diesem Rundumschlag fordert er eine Neuausrichtung der deutschen Sicherheitsapparate. Neben der Aufstockung von finanziellen und personellen Mitteln werden Reformen des BND, des BKA, in Verfassungsschutz, Bundeswehr und Polizei angemahnt. Außerdem solle ein neuer Geheimdienst zur Abwehr von Cyberkriminellen und Datenspionage entstehen. Der BND solle dem Verteidigungsministerium unterstellt werden, dies ist wohl die Forderung mit dem größten politischen Sprengstoff.
In seiner Kritik beschränkt er sich nicht nur auf Sicherheitsaspekte. Kanzlerin Merkel wird für ihre Politik gegenüber Geflüchtete scharf kritisiert. Die Grenzen hätten damals geschlossen werden müssen, anstatt Geflüchtete aufzunehmen. Diese seien auch eine Gefahr für die innere Sicherheit, von daher plädiert er für eine konsequentere Abschiebepraxis und stärkere Sicherung der Außengrenzen.
Hier werden außenpolitische Krisen und einzelne innenpolitische Terrorakte zur führenden Bedrohung für die BRD hochgespielt. Feindbilder gibt es immer: im Gegensatz zum „Kalten Krieg“ sind diese Entwicklungen eher ein laues Lüftchen.
Mehr Befugnisse und Ausstattung für den BND bergen auch Gefahren. Geheimdienste mit autoritärer Struktur, großem innenpolitischem Einfluss und medialer Breitenwirkung haben in einem demokratisch verfassten Staat nichts verloren, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Eigentlich. Dies ist allerdings Wunschdenken. Eine strikte parlamentarische Kontrolle des BND wäre ein Ausweg, um zu verhindern, dass sich eigene Strukturen bilden, die großen politischen Schaden anrichten.