Von Dagmar Henn
Der Ausgang des Hamburger Bürgerentscheids am Wochenende bringt weit mehr zum Vorschein als nur die Abstinenz sozial Benachteiligter von Abstimmungen. Er belegt eine tiefe Krise des politischen Systems.
Einschätzungen, die auf die mangelnde Mobilisierungsfähigkeit linker Organisationen bzw. deren verschiedene Haltungen zur vorgelegten Schulreform abzielen, springen deutlich zu kurz. Schließlich waren alle Parteien der Hamburger Bürgerschaft für diese Reform; was sich also widerspiegelt, ist die Mobilisierungsfähigkeit aller dieser Parteien. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis wirklich erschütternd. Und es erzwingt einige Überlegungen über die Bedeutung des plebiszitären Diskurses.
Ohne Zweifel, ein bedeutender Teil der sozial nicht Benachteiligten hat sich für die Zukunftssicherung des eigenen Nachwuchses entschieden; da bildet sich ein klarer Klassenstandpunkt ab, mit all seinen rassistischen Untertönen. Und natürlich haben sich die Bestrebungen des oft nur scheinliberalen deutschen Bürgertums zur Absicherung des eigenen Status auch dadurch verschärft, dass selbst bei erfolgreicher Reproduktion der Bildungskarriere der Nachwuchs längst keine wirklich stabilen Lebensverhältnisse mehr erwarten kann und man die wenigen sicheren akademischen Jobs nicht auch noch mit den Kindern der Unterklassen teilen will. Und dennoch, so düster die Botschaft ist, die davon ausgeht, es verbirgt sich noch mehr in diesem Ereignis.
In der letzten großen Phase der Bildungsreformversuche (Reform hier mal nicht im aktuellen Sinne der erweiterten Ausplünderung verstanden) waren die Bildungs- und die Demokratiedebatte noch miteinander verknüpft. Eine wirkliche Demokratie, so war einmal der Stand, bedürfe auch eines diskriminierungsfreien Zugangs zum für Entscheidungen erforderlichen Wissen. Ohne eine egalitäre Bildung müsse ein demokratisches System im Formalen gefangen bleiben. Zudem würde (das war 1945 auch die Überzeugung der Besatzungsmächte) ein hierarchisches, auf Aussonderung beruhendes Schulsystem immer wieder antidemokratische, elitäre Haltungen fördern. Was Letzteres angeht, war die Abstimmung des letzten Sonntags ein Beweis am lebenden Objekt.
Aber ein Diskurs über die politische Wirkungsmacht des Schulsystems findet mittlerweile nicht mehr statt, von einer Auseinandersetzung mit der Funktion in einer Klassengesellschaft ganz zu schweigen. Die Bildungsdebatte hat sich entpolitisiert. Übrig blieb allein eine Mischung aus technokratischen Erwartungen, eher gefühlten Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit und etwas konkreteren Befürchtungen, welche Folgen die Kastenbildung per Unterricht auf Stadtgesellschaften haben möge, garniert mit der populären Illusion, die Zuteilung von Armut und Reichtum ließe sich durch offenere Bildung verändern. Nein, die Notwendigkeit einer Veränderung des Bildungssystems ist deutlich und unbestreitbar, und hier wurde auch gegen deutlich artikulierte Kapitalinteressen entschieden. Aber der Verlauf dieser Entscheidung hat wesentlich damit zu tun, welche Argumente in der Gesellschaft noch "ziehen". Das Demokratieargument gehört offensichtlich nicht dazu.
Und hier sind wir auf der tieferen Ebene. Es gibt durchaus noch einen Diskurs über Demokratie in unserer Gesellschaft. Augenblicklich verkörpert er sich vor allem als Partizipationsdiskurs. In Bürgerentscheiden, Bürgerhaushalten und ähnlichen Verfahren wird die Hoffnung gesehen, die Gesellschaft zu demokratisieren. Vor dem tatsächlichen Hintergrund weitgehender Wahlenthaltung (die ja auch in Hamburg stattfand) handelt es sich dabei allerdings um einen Abwehrdiskurs, um einen Versuch, eine gefährdete Demokratie wieder zu beleben. Und, wie das Hamburger Beispiel zeigt, schließen sich über diesem Versuch alle sozialen Fallen, die damit verbunden sind. Wenn es einen Beleg für den sogenannten "Mittelschichtsbias" bräuchte, die Tatsache, dass es die Wohlhabenderen, die Gebildeteren sind, deren Interessen sich bei den meisten partizipativen Verfahren durchsetzen (oft noch deutlicher als in der repräsentativen Demokratie, in der die Vorstellung, allen Wählern verantwortlich zu sein, die völlig ungehemmte Verwirklichung der eigenen Interessen etwas stärker zu dämpfen scheint) - die Karten der Abstimmungsbeteiligung des letzten Wochenendes reichten dafür aus.
Die Partizipationsdebatte, wie sie vor allem von den Grünen geführt wird, ist selbst eine Abkopplung der Frage der Demokratie von der Frage der Gleichheit. Wie zu sehen ist, es wird kein Schuh draus. Tatsächlich ist es nur der Versuch, eine erodierende Loyalität zur Demokratie (und darum handelt es sich bei der anwachsenden Wahlenthaltung) gewissermaßen auf dem Wege der Selbsterfahrung zu therapieren, ohne die Widersprüche in der Gesellschaft in den Blick nehmen zu müssen. Vor dem Hintergrund sich verschärfender - ganz realer und materieller - Konflikte führen partizipative Verfahren aber nicht zu einer gültigen, weil weithin anerkannten Entscheidung, sondern zu einer weiteren Aufladung der Konflikte und zu einer Verstärkung des Loyalitätsverlustes. Wie wirkungsvoll sich da Gräben ziehen lassen, belegt auch das Nichtraucher-Volksbegehren in Bayern, das mitnichten eine Frage geklärt, sondern vor allem viele neue Kampffelder eröffnet hat. Es handelt sich um einen Versuch, mit Öl zu löschen.
Aber zurück zum letzten Wochenende. Frau ist ja versucht, solche Ereignisse zu betrachten, als fänden sie nicht in dem Land statt, in dem sie auch weiterhin leben müsste; das begrenzt zumindest das Gefühl des Ekels. Denn ja, hier hat sich eine zutiefst antidemokratische "Mehrheit" artikuliert, die Abgründe erahnen lässt. Es war gerade jene Personengruppe, die noch die stärkste Bindung an das parlamentarische System und seine Parteien aufweist, die deutlich gegen dasselbe votiert hat. Die Bedeutung dieser Entwicklung sollte man nicht unterschätzen, gerade vor dem Hintergrund einer sich gerade entfaltenden Diktaturdebatte. Wenn ein Teil der Bevölkerung von der parlamentarischen Mehrheit erreicht hätte werden müssen, dann dieser. Dass dies nicht gelang, und das unmittelbare Klasseninteresse sich durchsetzt, zeigt, dass in diesen bürgerlichen Kreisen das Verhältnis zur Demokratie (und zwar sowohl zur repräsentativen wie zur radikaldemokratischen) nur noch utilitaristisch ist. Heißt, wenn kein unmittelbarer, persönlicher und materieller Nutzen mehr daraus zu ziehen ist, könnte man sie auch bleiben lassen.
Das ist die Botschaft aus dem oberen Segment der Gesellschaft. Und aus dem unteren? Wie ist es denn zu werten, dass jene, die von der Umgestaltung unmittelbar profitiert hätten, der Entscheidung fernblieben? Zu behaupten, das sei die Folge politischer Ahnungslosigkeit, springt auch hier zu kurz. Immerhin ist das Thema breit genug öffentlich verhandelt worden, und jede auch nur denkbare Mobilisierungsstruktur stand grundsätzlich zur Verfügung. Neben den bürgerlichen Parteien und der LINKEN die Gewerkschaften und andere mehr. Dennoch waren es gerade mal 15% der Bevölkerung, die sich dafür mobilisieren ließen. Kaum anzunehmen, dass alle übrigen zu dumm waren (das Problem nicht abstimmungsberechtigter Migrationsbevölkerung lassen wir einmal außen vor).
Studien über Nichtwähler aus jüngerer Zeit weisen darauf hin, dass es sich meist eher um eine politische Entscheidung und nicht um eine Entpolitisierung handelt. Was, wenn auch die Wahlenthaltung im Bürgerbegehren mit einer solchen Entscheidung zu tun hätte? Welche Haltung könnte sich dahinter verbergen?
Wenn die Erwartung, politische Entscheidungen könnten tatsächlich im eigenen Interesse fallen, ohnehin gleich null ist, dann ändert selbst ein partizipatives Verfahren offenbar nichts mehr daran. Das Ergebnis ist scheinbar absurd; das Mittel, mit dem sich vermeintlich die Interessen der Unterlegenen hätten verwirklichen lassen, wurde schnöde zurückgewiesen; Ei drüber und tschüss. Aber noch einmal - man kann locker davon ausgehen, dass der politische Apparat alles kommuniziert hat, was er kommunizieren konnte, schon, um die eigene Stabilität zu sichern. Es hat nur nichts genützt. Und ich glaube nicht, dass es erfolgreich gewesen wäre, hätte die LINKE sich da ein Bein mehr ausgerissen.
Nein, die Erwartungen sind längst preisgegeben. Unten ist das Ergebnis im Grunde genau das selbe wie Oben, eine große Ferne vom bestehenden politischen System; nur die Annahme, die eigenen Interessen durchsetzen zu können, und womöglich der Anspruch, die Durchsetzung dieser eigenen Interessen sei legitim, ist nicht vorhanden. Während die einen ein demokratisches Verfahren zur Sicherung antidemokratischer Vorteile benutzen, sehen die anderen keinen Weg, nirgendwohin, und bleiben einfach fort, Plebiszit hin oder her.
Übrig bleibt ein Phänomen, das aus der deutschen Geschichte nicht ganz unbekannt ist: eine Demokratie ohne Demokraten.
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