von Jürgen Kuczynski - Reinhold Schramm (Bereitstellung)
Marxistische Weltaneignung
Eine große Wandlung, einen großen Fortschritt bringen nach der Auffassung von Meek zwei weltberühmte Männer, lange bevor sie bekannt waren, lange bevor sie ein Werk veröffentlicht hatten, als junge Männer, in den zwanziger Jahren ihres Lebens, fast gleichzeitig und völlig unabhängig von einander:
Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781)
Adam Smith (1723–1790).
Ronald Meek, dem wir das beste Werk über frühe Stufentheorien verdanken [18], möchte sich nicht entscheiden, ob Turgot oder Smith der erste war – aber auf Grund der von Meek selbst gegebenen Daten und der Quellen möchte ich doch annehmen, dass Turgot vor Smith und zwar wohl als erster eine ökonomische und eindeutige Stufentheorie der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft dargelegt hat, und dass auch noch andere vor Smith eine Stufentheorie vertraten.
Wir haben schon im Band I dieser „Studien“ von Turgot genau wie von Montesquieu als einem der Großen aus der Vorgeschichte des historischen Materialismus gehandelt. Hier gilt es, seine Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichtsschreibung herauszuarbeiten.
Eine kleine Studie über Ricardo begann ich so: „Wie bedauerlich, dass die Kunst der Synkrisis so ganz in Vergessenheit geraten! Welche Freude hätte ansonsten ein moderner Plutarch an der vergleichenden Darstellung von Quesnay und seinem Schüler Turgot, von Adam Smith und seinem Schüler David Ricardo. Ja, ein Doppelvergleich dieser vier wäre ein ganz besonderer Reiz. Denn kann man nicht sagen, dass in beiden Fällen die Lehrer – Quesnay und Smith – weiser und wohl auch optimistischer waren als die Schüler, die Schüler dagegen logischer im Gedankengang, erbitterter in der Konsequenz und systematischer im Aufbau des Systems?“ [19] Zugleich aber muss man auch feststellen, dass in dem ersten Vergleichspaar der Schüler Turgot, in dem zweiten der Lehrer Smith den größten Sinn für Geschichte gehabt hat.
Der historische Sinn von Adam Smith ist so ausgesprochen, dass Unwin bemerkt: „Adam Smith war der erste große Wirtschaftshistoriker, und ich zögere nicht hinzuzufügen, dass er meiner Ansicht nach noch immer der größte ist.“ [20] Der historische Sinn von Turgot ist nicht minder ausgesprochen. Betrachten wir nur eine Reihe seiner Thesen in seinem so bedeutenden und auch von Marx so hochgeschätzten theoretischen (!) Werk „Réflexions sur la formation et la distribution des richesses“:
„§ 8. Erste Teilung der Gesellschaft in zwei Klassen: eine produktive oder der Landwirte, eine besoldete oder der Gewerbsleute.
§ 9. In den ersten Zeiten muss der Grundeigentümer vom Landwirt nicht verschieden gewesen sein.
§ 10. Fortschritt der Gesellschaft; alles Land hat einen Herrn.
§ 11. Die Eigentümer beginnen, die Bearbeitung des Bodens auf bezahlte Landarbeiter abwälzen zu können.
§ 12. Ungleichheit in der Verteilung des Grundeigentums: Gründe, die sie unvermeidlich machen.
§ 13. Folge der Ungleichheit. Der Landwirt vom Grundeigentümer unterschieden.
§ 14. Teilung der Produkte zwischen dem Landwirt und dem Grundeigentümer.
Reinertrag oder Einkommen.
§ 15. Neue Teilung der Gesellschaft in drei Klassen: Landwirte, Gewerbsleute und Grundeigentümer, oder produktive, besoldete und verfügbare Klasse.“ [21]
Wahrlich diese Thesen zur Politischen Ökonomie sind zugleich Thesen zur Wirtschaftsgeschichte der Menschheit! Hier sehen wir, wie die Menschheit auf Grund ökonomischer Gesetze von einer Art Ordnung der Gewinnung des Lebensunterhalts mit verschiedenen Produktionsverhältnissen zur anderen fortschreitet – allerdings noch ohne klare Gliederung in verschiedene Gesellschaftsordnungen, wie sie Marx und Engels entwickelt haben.
Diese Unklarheit der Gliederung und ein gewisses Durcheinander von logischer und historischer Überlegung wird besonders deutlich, wenn Turgot die Landwirtschaft speziell betrachtet und folgende Thesen aufstellt:
„§ 19. Auf welche Weise die Grundeigentümer das Einkommen aus ihren Ländereien beziehen können.
§ 20. Erste Art: Landbau durch Lohnarbeiter.
§ 21. Zweite Art: Landbau durch Sklaven.
§ 22. Die Bodenkultur mit Hilfe der Sklaven kann in großen Gemeinwesen nicht halten.
§ 23. Die Schollenpflichtigkeit* folgt der eigentlichen Sklaverei.
§ 24. Das Lehnsverhältnis folgt der Schollenpflichtigkeit, und der Sklave wird Grundeigentümer. Dritte Art: Veräußerung des Bodens gegen einen Grundzins.
§ 25. Vierte Art: Teilpacht.
§ 26. Fünfte Art: Pacht oder Miete von Grundstücken.“ [22]
Doch auch hier überwiegt die historische Ableitung. Hören wir zum Beispiel die näheren Ausführungen zu § 23, den Übergang von der Sklaverei zur Schollenpflichtigkeit:
„Die Abkömmlinge der ersten Sklaven, von Anbeginn an die Bodenkultur gefesselt, kommen persönlich in eine bessere Lage, Der innere Friede unter den Völkern entzieht dem Handel die Mittel, um einen sehr großen Sklavenverbrauch auszugleichen, und die Herren sind also gezwungen, sie mehr zu schonen.
Diejenigen, welche im Hause geboren und von Kindheit auf an ihre Lage gewöhnt sind, empören sich weniger dagegen, und die Herren haben nicht soviel Strenge nötig, um sie im Zaune zu halten. Nach und nach wird die Scholle, die sie bebauen, ihre Heimat; sie kennen keine andere Sprache als die ihrer Herren; sie werden ein Teil derselben Nation; es entsteht Vertraulichkeit und in der Folge Vertrauen und Menschlichkeit auf Seite der Herren.“ [23]
Dieses Werk wurde 1766 geschrieben und 1769/70 veröffentlicht. Wesentlich früher liegen Turgots Studien, in denen er seine Stufentheorie der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darlegt.
Einen ersten Anfang finden wir bereits in seinem Second discours sur les progrès successifs de l’esprit humain (1750) und dann in seiner Studie „Über politische Geographie“ (1751), in der er bereits schreibt: „Die nacheinander folgenden Wandlungen in der Art des Lebens der Menschen und die Reihe, in der sie aneinander folgten, sind): Völker, die Jäger sind, Hirten, Ackerbauer.“ [24]
Wirklich ausführlicher aber entwickelt Turgot seine Stufentheorie erst in der unmittelbar folgenden (1751 oder 1752) Arbeit über eine „Universalgeschichte“. Er beginnt seine Untersuchungen mit der Zeit nach der Sintflut und vermeidet so alle Schwierigkeiten, die sich aus dem Paradies und den Berufen von Abel und Kain ergeben.
Die ersten Menschen „bewegen sich ohne festes Ziel, wohin die Jagd sie trieb“. [25]
Das nächste Stadium ist das der Hirten, und dieses lässt sich nur erreichen, wo es Tiere gibt, „die sich von den Menschen unterwerfen lassen wie die Rinder, Scharfe, Ziegen, und die Menschen es vorteilhafter finden, sie in Herden zu versammeln als den herumirrenden Tieren nachzulaufen“. [26]
Dort wo, wie in Amerika, solche Tiere fehlen, seien die Menschen Jäger geblieben.
„Die Hirtenvolker, die einen reichlicheren und gesicherten Lebensunterhalt haben als die Jäger, sind zahlreicher an Bevölkerung gewesen. Sie haben begonnen, wohlhabender zu sein und einen größeren Sinn für privates Eigentum zu entwickeln. . . . die Herden . . . ernähren mehr Menschen als zu ihrer Pflege notwendig sind.“ [27]
Das Mehrprodukt ist in die Geschichte der Menschheit eingetreten. Später, in dem zuerst zitierten Buch, wird Turgot noch klarer über das Mehrprodukt schreiben und Marx sehr genau seinen Gedankengängen folgen:
„Wie entspringt nun der Mehrwert? Er entspringt nicht aus der Zirkulation, aber er realisiert sich in derselben. Das Produkt wir zu seinem Wert verkauft, nicht über seinem Wert. Kein Überschuss des Preises über den Wert. Aber weil es zu seinem Wert verkauft wird, realisiert der Verkäufer einen Mehrwert. Dies ist nur möglich, weil er den Wert, den er verkauft, selbst nicht ganz bezahlt hat oder weil das Produkt vom Verkäufer unbezahlten, nicht durch Äquivalent ersetzten Wertbestandteil enthält. Und dies ist der Fall bei der Agrikulturarbeit. Er verkauft, was er nicht gekauft hat. Dies nicht Gekaufte stellt Turgot zunächst als pur don de lat nature dar. Wir werden aber sehn, dass dies pur don de la nature sich ihm unter der Hand in die vom propriétaire nicht gekaufte Surplusarbeit der labourers verwandelt, die er in den Agrikulturprodukten verkauft.
,Sobald die Arbeit des Landmanns über seine Bedürfnisse hinaus produziert, kann er mit diesem Überschuss, den ihm die Natur als reines Geschenk über den Lohn für seine Mühen hinaus gewährt, die Arbeit der anderen Mitglieder der Gesellschaft kaufen. Diese gewinnen durch den Verkauf ihrer Arbeit an ihn nur ihren Lebensunterhalt; der Landmann dagegen erwirbt außer seinem Unterhalt einen unabhängigen und verfügbaren Reichtum, den er nicht gekauft hat und den er verkauft. Er ist also die einzige Quelle der Reichtümer, die durch ihre Zirkulation alle Arbeiten der Gesellschaft beleben, weil er der einzige ist, dessen Arbeit etwas über den Lohn der Arbeit hinaus produziert.’
In dieser ersten Auffassung erstens das Wesen des Mehrwerts, dass er Wert ist, der im Verkauf realisiert wird, ohne dass der Verkäufer ein Äquivalent dafür gegeben, ohne dass er ihn gekauft hat. Unbezahlter Wert. Aber zweitens wird diese als pur don de la nature aufgefasst, dieser Überschuss über das salaire du travail; indem es, überhaupt Gabe der Natur, von der Produktivität der Natur abhängt, dass der Arbeiter fähig ist, in seinem Arbeitstag mehr, als zur Reproduktion seines Arbeitsvermögens nötig ist, mehr, als sein salaire beträgt, zu produzieren. In dieser ersten Auffassung wird das Gesamtprodukt noch vom Arbeiter selbst angeeignet. Und dies Gesamtprodukt zerfällt in 2 Teile. Der erste bildet sein Salair; er wird sich selbst gegenüber als Lohnarbeiter dargestellt, der sich den Teil des Produkts zahlt, der zur Reproduktion seines Arbeitsvermögens, seiner Subsistenz nötig ist. Der zweite Teil, der darüber hinausgeht, ist Gabe der Natur und bildet den Mehrwert. Die Natur dieses Mehrwertes, dieses pur don de la nature, wird sich aber näher gestalten, sobald die Voraussetzung des propriétaire cultivateur aufhört und beide Teile des Produkts, das salaire und der Mehrwert, verschiedenen Klassen zufallen, der eine dem Lohnarbeiter, der andre dem propriétaire.
Damit sich eine Klasse von Lohnarbeitern bildet, sei es in der Manufaktur, sei es in der Agrikultur selbst – zunächst erscheinen alle manufacturiers nur als stipendiés, Lohnarbeiter des cultivateur propriétaire –, müssen sich die Arbeitsbedingungen von dem Arbeitsvermögen trennen, und die Grundlage dieser Trennung ist, dass die Erde selbst als Privateigentum eines Teils der Gesellschaft erscheint, so dass der andre Teil von dieser gegenständlichen Bedingung zur Verwertung seiner Arbeit ausgeschlossen ist.
,In den ersten Zeiten brauchte der Grundeigentümer vom Bebauer des Landes nicht unterschieden zu werden . . . In jenen ersten Zeiten, wo jeder arbeitsame Mensch soviel Boden fand, wie er verlangte, konnte niemand sich veranlasst fühlen, für einen anderen zu arbeiten . . . Aber schließlich fand jedes Bodenstück seinen Herrn; und diejenigen, die kein eigenes Grundeigentum erlangen konnten, fanden zunächst keinen anderen Ausweg als den, die Arbeit ihrer Hände – im Dienst der besoldeten Klasse’ (nämlich la classe des artisans, kurz aller Nichtagrikulturarbeiter) –, ,gegen den Überschuss der Erzeugnisse des landbebauenden Grundeigentümers auszutauschen.’
Der propriétaire cultivateur, mit dem superflu considérable, den die Erde seiner Arbeit gab, konnte
,Leute bezahlen, damit sie seinen Boden bebauten; denn für die, die vom Arbeitslohn leben, war es gleich, ob sie ihn durch diese oder durch irgendeine andere Tätigkeit erwarben. Das Eigentum am Boden musste daher von der Arbeit der Bodenbebauung getrennt werden und wurde es auch bald . . . Die Grundeigentümer beginnen . . . die Arbeit der Bodenbebauung auf entlohnte Bebauer abzuwälzen.’
Damit tritt also das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit in der Agrikultur selbst ein. Es tritt erst ein, sobald eine Anzahl vom Menschen vom Eigentum an den Arbeitsbedingungen – vor allem dem Grund und Boden – sich losgelöst finden und nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeit selbst.
Für den Lohnarbeiter nun, der keine Ware mehr produzieren kann, sondern seine Arbeit selbst verkaufen muss, wird das Minimum des Salairs, das Äquivalent der notwendigen Lebensmittel, notwendig Gesetz in seinem Austausch mit dem Eigentümer der Arbeitsbedingung.
,Der einfache Arbeiter, der nichts als seine Arme und seinen Fleiß besitzt, hat nichts, außer wenn es ihm gelingt, seine Arbeit an andre zu verkaufen . . . Bei jeder Art Arbeit muss es dahin kommen, und kommt es in der Tat dahin, dass der Lohn des Arbeiters auf das begrenzt ist, was er notwendig zu seinem Lebensunterhalt braucht’.“ [28]«
(Teil 3)
Anmerkungen
18 R. L. Meek, Social Science and the ignoble savage, Cambridge 1976 – künftig zitiert als „Ignoble Savage“.
19 „Die Großen der Weltgeschichte“, Bd. VII, Zürich 1977.
20 N. B. Harte, a. a. O., S. 39.
21 A. R. J. Turgot, Betrachtungen über die Bildung und die Verteilung des Reichtums, Jena 1924, S. 44–47.
22 Ebendort, S. 50–55.
23 Ebendort, S. 52 f.* Wörtlich: Sklaverei der Scholle, l’esclavage de la glêbe.
24 G. Schelle (Hg.) Oeuvres des Turgot, Bd. I, Paris 1913, S. 259 – künftig zitiert als „Turgot“.
25 Ebendort, S. 279.
26 Ebendort.
27 Ebendort, S. 279 f.
28 Marx/Engels, Werke, Bd. 26, 1, Berlin 1965, S. 25 f.
Quelle: Jürgen Kuczynski: Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften. Zur Geschichte der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Akademie-Verlag Berlin 1978. Vgl.: Stufentheorien der Wirtschaftsentwicklung.
VON: JÜRGEN KUCZYNSKI - REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)