von Jürgen Kuczynski - Reinhold Schramm (Bereitstellung)
Marxistische Weltaneignung
Wir haben den Gedankengang Turgots über die Stufen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft kurz unterbrochen, um zu zeigen, wie er sich über die Rolle des Mehrprodukts (nicht über dessen Herkunft!) In der Geschichte doch schon recht klar ist und fahren in der Stufenuntersuchung der „Universalgeschichte“ fort. Zunächst noch eine kluge Beobachtung über die Hirtenvölker: „Die Streifzüge der Hirtenvölker hinterlassen mehr Spuren als die der Jäger. Empfänglich und empfindlich durch die Muße, deren sie sich erfreuen, für eine größere Anzahl von Bedürfnissen und Wünschen, eilten sie dorthin, wo sie sich größeren wirtschaftlichen Erfolg versprachen und bemächtigten sich seiner.“ [29] Großartig, wie hier bereits eine Beziehung zwischen Mehrprodukt, mehr Muße, gesteigerten Lebensbedürfnissen und dem Streben nach mehr Mehrprodukt hergestellt wird.
Für Turgot erscheinen auch die ersten Sklaven in dieser Zeit. Und zwar ebenfalls auf Grund der Mehrproduktgewinnung und von Kriegen. Wenn nämlich ein Nomadenstamm den anderen besiegt und ihm seine Herden nimmt, dann sind die Besiegten ohne Lebensunterhalt, „sie folgen dem Schicksal der Tiere und werden Sklaven der Sieger, die dafür, dass sie die Herden hüten, ernährt werden.“ [30]
Die nächste Stufe ist die der Ackerbauer, die zuerst von Hirtenstämmen in fruchtbaren Gegenden erreicht wurde, „Die Ackerbauer sind nicht von Natur kriegerisch, die Bebauung der Erde beschäftigt sie zu stark, doch da sie reicher als die anderen Völker sind, sind sie gezwungen, sich gegen die Gewalt zu verteidigen. Überdies ernährt die Erde bei ihnen mehr Menschen als zur Bebauung notwendig sind. Daher kommen die Menschen, die Muße haben; daher Städte, Handel, all die nützlichen Künste (Handwerk – J. K.) Und die des reinen Vergnügens, daher der schnellere Fortschritt jeder Art, denn alles folgt dem allgemeinen Fortschritt des Geistes; daher auch eine höhere Kriegskunst als die der Barbaren; daher die Arbeitsteilung, die Ungleichheit der Menschen.“ [31] Die Menschen haben nach den drei Stadien des Jagens, der Hirten, der Ackerbauer das vierte Stadium ihrer Erntwicklung erreicht, das des „commerce“, der Städte. Und zwar – auch das eine erstaunliche Gedankenleistung – ging nach Turgot dieser Fortschritt immer schneller vorwärts . . . eine erste schon mehr als Andeutung des Gesetzes des beschleunigten Fortschritts der Geschichte, das natürlich Rückschläge nicht ausschließt.
Nimmt man alle drei hier erwähnten Frühschriften – die Rede über den Fortschritt des menschlichen Geistes, die politische Geographie und die Universalgeschichte zusammen, die alle wohl innerhalb von ein bis zwei Jahren verfasst wurden, dann finden wir in der ersten noch ein Überwiegen idealistischer Auffassungen, zugleich aber wohl die stärkere Bettonung der Rolle der Ungleichheit unter den Menschen für die Entwicklung, in der letzteren aber bereits ein materialistisches Bild der Entwicklung und eine Periodisierung der Geschichte nach der Art, wie die Menschen sich den Lebensunterhalt gewinnen.
Die Produktionsverhältnisse jedoch spielen, mit Ausnahme der Sklaverei, noch keine Rolle. Das wird erst in den 15 Jahre später geschriebenen Werk der Fall sein, über das wir schon gesprochen haben, jedoch dann ohne näheres Eingehen auf die Vier-Stufen-Theorie der Entwicklung, die Turgot in den Frühschriften entwickelt hat, ohne rechte Verbindung mit ihr.
In jedem Fall sehen wir, wie kühn Turgot (und wir werden sehen, wie kühn auch andere Denker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darin waren) auf dem Wege zum historischen Materialismus vorangeschritten ist. Wieviel Marx und Engels als Philosophen vor allem Hegel verdanken, weiß jeder gebildete Marxist, ebenso wieviel sie als Politökonomen von Smith und Ricardo übernommen haben. Jedoch die Vorgeschichte des historischen Materialismus als Konzeption einer Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist noch verhältnismäßig ungenügend erforscht, und damit auch die vormarxistische Konzeption der Wirtschaftsgeschichte. Einer der ganz Großen mit einer vormarxistischen Konzeption war Turgot. –
Verfolgen wir zunächst die Entwicklung in Frankreich weiter, vor allem bei Goguet, den sowohl Werner Krauss und seine Schüler wie auch andere (er wird in W. P. Wolgins „Gesellschaftstheorien der französischen Aufklärung“ auch nicht erwähnt) so vernachlässigt haben, dessen Bedeutung aber Meek sehr deutlich hervorhebt. Obgleich sein Hauptwerk auch ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, erwähnt ihn selbst der „Große Larousse“ nicht. Und doch war er ein hervorragender Gesellschaftswissenschaftler seiner Zeit. Antoine Yves Goguet wurde 1716 geboren und starb schon 1758. Von Beruf war er Jurist und als conseilleur au Parlament, als Rat am höchsten Gericht einer Provinz tätig. Sein Hauptwerk, De l’origine des loix, des arts, et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples, Paris 1758, erschien schon 1760 auf Deutsch unter dem Titel „Untersuchungen von dem Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften, wie auch ihrem Wachstum bei den alten Völkern“ in drei Bänden.
Auch Goguet beginnt mit der Geschichte der Menschheit nach der Sintflut. Methodologisch ist hervorzuheben, dass er sich um die stärkere Auswertung der alten Quellen, sei es die Bibel oder Homer, und wie eine Reihe anderer Schriftsteller jener Zeit um Analogien aus der Gegenwart, etwa die Indianer als Analogie zu den frühesten Gesellschaftszuständen der Menschheit, bemüht. Dabei ist er recht zufrieden mit dem uns hinterlassenen Material aus alten Zeiten: „Es hat uns zwar die Zeit und die Barbarei viele Werke des Alterthums entzogen, dennoch hat uns dieser Verlust, in der That, nur der Kenntnis einiger historischer Umstände, einiger Kleinigkeiten, und einiger besonderer Begebenheiten beraubt. Es sind noch genug historische Denkmale in allen Arten übrig, um daraus abnehmen zu können, wie der Zustand der Künste und der Wissenschaften bei den alten Völkern überhaupt beschaffen war, von der Zeit an, da durch die Verwirrung der Sprachen und die Zerstreuung der Familien (er meint die Geschichte vom Turmbau zu Babylon – J. K.), welche diese Begebenheit veranlasste, die ersten Völkerschaften sich zusammen thaten. Man kann sogar abnehmen, bis zu welchem Grad die Erkenntnisse ehemals gelangt sind.“ [32]
In der Folgezeit werden sich die Forschungsmethoden nicht grundlegend ändern: wir wissen, welche Rolle etwa Homers Schilderungen auch für Engels bei der Untersuchung früherer Zustände gespielt haben und mit welchem Interesse Marx und Engels die Forschungen L. H. Morgans über die Indianer als Analogie für die Zustände der Urgemeinschaft verfolgt und genutzt haben. Natürlich ist die Materialsammlung inzwischen weit geschickter und umfassender geworden, aber auch heute noch arbeitet man sowohl mit alten Materialien wie auch mit Analogien. Auch noch heute unterschreibt man die Feststellung Goguets, die für ihn auch schon eine Tradition hat: „Besonders sind mir die Nachrichten von America bei diesem Stükke von grossem Nuzzen gewesen. [entspricht Text] Man muss von dem Zustande, darin die alte Welt sich einige Zeit nach der Sündfluth befand, aus demjenigen urtheilen, der noch in einem grossen Theile der neuen Welt statt fand, als ihre Entdekkung geschah.“ [33]
Der Ausgangspunkt Goguets für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sind die Not und der Wunsch nach einem besseren Leben. „Die wichtigste Sorge einer Gesellschaft, welche zumal unvollkommen ist, gehet dahin, für ihre Erhaltung zu sorgen. Das Unglük, welchem die ersten Gesellschaften ausgesetzt waren, lehrte geschwind Mittel ausfindig machen, ihm abzuhelfen.“ [34]
Auch die erste „monarchische“ Regierung wird materialistisch abgeleitet: „Moses sagt, dass Nimrod der erste gewesen sey, welcher angefangen habe mächtig zu seyn auf der Erde. Der heilige Geschichtsschreiber fügt unmittelbar hernach hinzu, dass Nimrod ein fertiger und berühmter Jäger gewesen. Alles macht uns glauben, dass er dieser Eigenschaft seine Erhebung zu verdanken habe. Die Erde war einige Zeit nach der Sündflut mit Wäldern bedekt, welche mit wilden Thieren angefült waren. Man musste beständig gegen ihre Anfälle auf der Hut seyn. Ein Mensch, welcher die nöthigen Eigenschaften, zu ihrer Vertilgung, in sich vereinigte, musste damals im äussersten Grad hochgeachtet werden. Nimrod machte sich durch seine Jagden, welche der ganzen Gegend um Sinear nützlich waren, daselbst berühmt. Er sahe daher gar bald die Einwoner sich an seiner Seite versamlen. Da er sich oftmals an ihrer Spizze befand, so gewöhnte er sie unvermerkt, seine Befehle anzunehmen und auszuführen, und durch die stilschweigende Einstimmung derjenigen, welche sich freiwillig unter seine Anfürung begeben hatten, blieb er ihr Oberhaupt. Auf diese Art kam es wahrscheinlicher Weise, zur Stiftung des ersten Königreichs, welches uns bekant ist.“ [35] Wahrlich eine großartige materialistische Ableitung der Einrichtung der Monarchie, mit der Bibel als Quelle, unter dem „von Gott eingesetzten“ absoluten König Frankreichs. [- J. K.]
Was nun die Stufentheorie der Entwicklung der Gesellschaft betrifft, so finden wir vielfach die Tendenz bei Goguet, dem Ackerbau eine solche Bedeutung beizumessen, dass alles, was vorangeht, gewissermaßen in Einem abgehandelt wird. Etwa wenn er feststellt:
„Man weis, dass eine Zeit gewesen ist, da die Völker ihren Unterhalt nur von den Früchten zogen, welche von der Erde natürlicher Weise hervorgebracht wurden; von der Jagd, dem Fischfang, und den Heerden, die sie zogen. Diese Lebensart nöthigte sie, öfters den Platz zu verändern. Sie hatten daher weder einen dauerhaften Aufenthalt, noch eine feste Wohnung. So war, bis die Zeit, da der Ackerbau eingeführt wurde, die alte Art zu leben beschaffen, welche sich sogar unter vielen Völkern erhalten hat, als den Scythen, den Tartarn, den Arabern, den Wilden u. s. w.
Die Erfindung des Akkerbaues führt ganz verschiedene Sitten ein. Die Völker, bei denen dies Kunst Eingang fand, waren gezwungen, sich in einer gewissen Gegend fest zu sezzen. Sie vereinigten sich in Städte. Diese Art der Gesellschaft hatte eine viel größere Anzahl Künste nötig, als diejenigen Völker, welche den Akkerbau verabsäumten, oder gar nichts davon wusten, und muste [entspricht Text] aus einer nothwendigen Folge auch viel mehrere Gesezze nöthig haben.“ [36]
So bedeutsam scheint Goguet der Ackerbau – er lebt noch in einer vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung! –, dass nicht nur alle Formen der Gewinnung des Lebensunterhalts davor zu Einer werden, sondern auch die Städte gewissermaßen zu einem Anhängsel der Landwirtschaft werden. Entsprechend teilt er – es geht ihm ja in seinem Buch auch vor allem um die Gesetzgebung – die Gesetze in solche ein, die so allgemein sind, dass sie überall und immer gelten, und in solche, die nur den Ackerbau treibenden Gesellschaften eigentümlich sind und die er „bürgerliche“ Gesetze nennt.
„Indem der Akkerbau den Künsten und der Handlung (Handel, Geschäftstätigkeit – J. K.) Den Ursprung gab, so brachte er durch eine natürliche Folge gar bald das bürgerliche Recht hervor . . . Der Feldbau erfordert große Sorge und Arbeit, und die Völker, welche diese Lebensart ergriffen, waren gezwungen, in ihrem Fleis die Hülfe zu suchen, welche sie bedurften. Diese Untersuchungen gaben einer grossen Menge Künste den Ursprung; diese Künste brachten die Handlung hervor, die Handlung vermehrte und machte das Interesse der verschiedenen Glieder der Gesellschaft, ins besondere und gegen einander, manchfältiger. Alle diese Dinge erforderten Verordnungen: und also gab der Feldbau mit seinem Zugehör zur Einführung einer grossen Anzahl Gesezze Anlas.“ [37]
Noch weit eindeutiger als bei Montesquieu ist hier die Ableitung der Gesetzgebung aus der materiellen Produktion. Der Ackerbau erforderte eine starke Entwicklung des Handwerks (der Künste); das Handwerk führte zur Ausdehnung des Handels; damit wuchs die Verschiedenheit der Interessen innerhalb der Gesellschaft; diese Verschiedenheit der Interessen aber erforderte einen starken, der Ackerbaugesellschaft mit ihrem „Zubehör“ (Handwerk und Handel) entsprechenden Ausbau der Gesellschaft. So wird der Überbau aus der Entwicklung der Basis erklärt.
Immer stärker wird das Bedürfnis nach neuen Gesetzen: „man musste auch in der Folge diese Verordnungen weiter erstrekken und abändern, nach dem Maas, als sich die Handlung ausbreitete, der Fleis es zu einer grössern Volkommenheit brachte, nachdem man neue Zeichen von Waaren einführte, neue Untersuchungen anstelte, und der Überflus den Pracht und den Aufwand erzeugete.“ [38] Umgekehrt aber unterstützt auch der Überbau die Basis und der Staat wie seine Gesetzgebung machten zum Beispiel die Weiterentwicklung des Handwerks möglich: „Allein die ersten Erfindungen würden niemals auf einen gewissen Grad gebracht werden seyn, wenn sich nicht die Familien zusammen gehalten hätten, und Gesezze eingeführet worden wären, wodurch die Gesellschaften befestiget wurden. Dieses ist das Mittel, wodurch es gelungen ist, nach und nach einige grobe Erfindungen, Früchte des blinden Zufals und der Noth, zur Volkommenheit [entspricht Text] zu bringen: und man siehet, dass die Erfindungen in den Künsten den Völkern beigeleget werden, welche zuerst einen Staatskörper ausmachten.“ [39] Ist „die Noth, die Mutter der Künste“ [40], so ist der Überbau ihr Erzieher.
Am klarsten und deutlichsten entwickelt Goguet eine Stufentheorie der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in folgender Passage:
„Der Unterhalt ist der erste und wichtigste Gegenstand, womit man sich bei entstehenden Gesellschaften beschäftigt haben mogte: aber diese Versuche waren, nach Verschiedenheit der Landstriche und des Genie der mancherlei Völker, mehr oder weniger vollkommen. In einigen Ländern mag man damit angefangen haben, die Jagd und den Fischfang zur Volkommenheit zu bringen. Die Jagd war vornemlich bei dem größten Theil der Völker des Alterthums die hauptsächlichste Beschäftigung der ersten Menschen. Sie legten sich darauf so wohl wegen des nothdürftigen Unterhalts, als aus Nothwendigkeit, ihr Leben gegen die Anfälle der wilden Thiere zu verteidigen. Auch noch heutigen Tages gibt es eine Menge Nationen in beiden Welten, welche sich blos mit der Jagd und dem Fischfang beschäftigen.“
Das ist die erste Stufe der Entwicklung: die Jägergesellschaft.
„Allein fleissige Völker bemerkten bald, dass unter dieser unzählbaren Menge von Thieren welche auf der Oberfläche der Erde ausgebreitet sind, es Arten gebe, die für sich zusammen und in Gesellschaft lebten. Man bemerkte so gar, dass diese Arten natürlicher Weise weniger wild, als die übrigen wären. Man suchte Mittel, sie zahm zu machen, sie in Gärten einzuschliessen, und sich vermehren zu lassen. Ein grosser Theil [entspricht Text] der Völker zog in den ersten Jahrhunderten, und noch lange Zeit nachher, seinen Unterhalt von den Heerden. Wir kennen viele mächtige und weitläufige Völker, welche noch diese Lebensart treiben.“
Das ist die zweite Stufe der Entwicklung: die Nomaden- bzw. Hirtengesellschaft.
„Die Erde bringt eine Menge Pflanzen und Früchte hervor, welche so gar, ohne gepflegt zu werden, dem Menschen eine kräftige und angenehme Nahrung gewähren. Man fing an, die besten Arten auszulesen, und vornehmlich diejenigen, welche sich lange Zeit nachher erhalten, da man sie gesamlet hat: man war bedacht, einen Vorrath davon zu machen. Man lernte nachher die Kunst, sie wachsen zu machen, und selbst ihre Anzahl und Eigenschaften durch die Wartung zu vermehren. Dieser Entdekkung [entspricht Text] haben wir diese erstaunliche Menge Künste und Wissenschaften zu danken, der wir heutigen Tages geniessen.“ [41] Und dann fährt Goguet fort, so wie wir es zuvor geschildert haben.
Am nächsten kommt Goguet einer vierten Stufe der Entwicklung vielleicht in einer späteren Bemerkung: „Der Akkerbau konte [entspricht Text] keinen Fortgang haben, ohne dass ihn nicht zugleich mit ihm andere Künste gehabt hätten. Es ist zwischen diesen Dingen die genaueste Verhältnis und Verbindung, welche fast nicht erlauben, dass sie sich trennen“; – großartig diese Dialektik! – „daher nahmen, so wie sich der Akkerbau [entspricht Text] verbesserte, andere Künste den Ursprung; und die, so bereits erfunden waren, wurden volkommener. Man wendete den Fleiss zuerst auf die nothwendigsten. Die Künste des Prachts folgten nachher. Und diese Ordnung will ich in dem, was uns noch in dieser Materie zu sagen übrig, befolgen.“ [42]
Es ist nicht eigentlich der Handel, der die vierte Stufe ausmacht, sondern die „Pracht“, beruhend auf einem beachtlichen Mehrprodukt. Der gleiche Gedankengang begegnet uns auch so: „Die Baukunst erhielte demnach von der Noth ihre Geburt; ihre Zierde aber durch den Überfluss.“ [43]
Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass Goguet Turgot persönlich gekannt hat oder gar in seine unveröffentlichten Manuskripte hineingesehen hat. Wir müssen darum Goguetes Ausführungen zur Stufenentwicklung der Menschheit als durchaus originell ansehen.
Sie sind nicht so tief wie die Turgots: die Rolle des Mehrproduktes und der Muße sind nicht klar herausgearbeitet. Aber zum Unterschied zu Turgot, der uns eine Skizze der wirtschaftlichen Entwicklung gibt, hat Goguet eine Geschichte der Produktionsgegenstände, Produktionsinstrumente, ja teilweise der Produktivkräfte allgemein in der alten Welt gegeben. Es ist die Zeit, in der diese so bedeutsamen Elemente des gesellschaftlichen Lebens allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken beginnen. Es ist die Zeit, in der die Grundlagen für eine Geschichte der Produktivkräfte gelegt werden. Es ist die Zeit, in der die Bedürfnisse der zur Macht drängenden Bourgeoisie d’Alembert folgende Sätze für die Einleitung in die Enzyklopädie diktieren:
„Die von einer manuellen Tätigkeit abhängenden und, wenn man so sagen darf, einer Art von Routine unterworfenen mechanischen Künste wurden jenen Menschen überlassen, welche die Vorurteile in die unterste Klasse verwiesen hatten. Die Armut, welche diese Menschen zwang, sich mit einer derartigen Arbeit zu befassen, während Neigung und Begabung (le gout et le génie) sie viel seltener dazu trieben, wurde dann ein Grund, diese Menschen zu verachten. So schädlich wirkt sich die Armut auf alles aus, was mit ihr zu tun hat. Die freien Tätigkeiten des Geistes dagegen fielen denen zu, die sich in dieser Hinsicht von der Natur für am meisten begünstigt hielten. Indessen wird die Bevorzugung (avantage), welche die freien Künste wegen der Anforderung, die sie an den Geist stellen, und wegen der Schwierigkeit, sich in ihnen auszuzeichnen, gegenüber den mechanischen Künsten genießen, dadurch reichlich aufgewogen, dass uns die letzteren meistens weit größeren Nutzen verschaffen. Eben diese Nützlichkeit war der zwingende Grund dafür, letztere auf rein mechanische (machinales) Tätigkeiten zu reduzieren, um so einer größeren Anzahl von Menschen ihre Ausübung (pratique) zu erleichtern. Aber wenn die Gesellschaft mit Recht die großen Genies verehrt, welche zu ihrer Aufklärung beitragen, so darf sie doch keinesfalls die Hände geringschätzen, die ihr dienen ...
Die Geringschätzung der mechanischen Künste scheint bis zu einem gewissen Grade sogar ihre Erfinder beeinflusst zu haben. Die Namen dieser Wohltäter des Menschengeschlechtes sind fast alle unbekannt, während die Geschichte ihrer Zerstörer, d. h. der Eroberer, jedermann bekannt ist. Und doch sind es vielleicht gerade die Handwerker, bei denen man die bewunderungswürdigsten Beweise für den Scharfsinn des Geistes, für seine Beharrlichkeit und seine Hilfsmittel zu suchen hat . . . Um bei der Uhrmacherei zu bleiben – warum erfreuen sich diejenigen, denen wir die Spindel, die Hemmung und das Schlagwerk der Uhren verdanken, nicht ebenso großer Achtung wie diejenigen, die an der allmählichen Vervollkommnung der Algebra gearbeitet haben?“ [44]«
(Teil 4)
Anmerkungen
29 „Turgot“, S. 280.
30 Ebendort.
31 Ebendort, S. 282.
32 A. Y. Goguet, Untersuchungen von dem Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften wie auch ihrem Wachstum bei den alten Völkern, Erster Theil, Lemgo 1760, S. IV.
33 Ebendort, S. X.
34 Ebendort, S. 4.
35 Ebendort, S. 6 f.
36 Ebendort, S. 11 f.
37 Ebendort, S. 27.
38 Ebendort, S. 30.
39 Ebendort, S. 70.
40 Z. B. ebendort, S. 74.
41 Ebendort, S. 83 f.
42 Ebendort, S. 120 f.
43 Ebendort, S. 133.
44 J. L. R. d’Alembert, Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie, Berlin 1958, S. 51 f.
Quelle: Jürgen Kuczynski: Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften. Zur Geschichte der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Akademie-Verlag Berlin 1978. Vgl.: Stufentheorien der Wirtschaftsentwicklung.
VON: JÜRGEN KUCZYNSKI - REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)