von N. G. Semrjugina - Reinhold Schramm (Bereitstellung)
W. I. Lenin – Gegen Dogmatismus und Sektierertum
[Teil 6]
Eine Auswahl von Schriften und Reden
»Wir leben in stürmischen Zeiten, die Geschichte Russlands schreitet mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts, und jedes Jahr bedeutet jetzt manchmal mehr als Jahrzehnte friedlicher Perioden. Die Bilanz des halben Jahrhunderts, das seit den Reformen verstrichen ist, wird gezogen, die Grundsteine für die sozial-politischen Bauwerke werden gelegt, die auf lange, lange Zeit die Geschicke des ganzen Landes bestimmen werden. Die revolutionäre Bewegung wächst weiter mit erstaunlicher Schnelligkeit an – und „unsere Richtungen“ reifen (und welken) unerhört rasch. Richtungen, die in der Klassenstruktur eines sich rasch entwickelnden kapitalistischen Landes wie Russland feste Grundlagen haben, finden fast sofort „ihren richtigen Platz“ und machen die ihnen verwandten Klassen ausfindig. Ein Beispiel: Die Evolution des Herrn Struve, dem die Maske des Marxisten „vom Gesicht zu reißen“ die revolutionären Arbeiter erst vor anderthalb Jahren vorgeschlagen haben und der jetzt bereits aus freien Stücken ohne Maske als Führer (oder Bedienter?) der liberalen Gutsbesitzer aufgetreten ist, die sich mit ihrer Bodenständigkeit und Nüchternheit brüsten. Die Richtungen hingegen, die nur die traditionelle Unbeständigkeit der Anschauungen unbestimmter Zwischenschichten der Intelligenz zum Ausdruck bringen, bemühen sich, die Annäherung an bestimmte Klassen durch ein Verhalten zu ersetzen, das um so lärmender wird, je lauter die Ereignisse sprechen. „Lärm, Bruder, Lärm“ – das ist die Losung vieler revolutionär gestimmter Leute, die von dem Wirbel der Ereignisse mitgerissen werden und weder theoretische noch soziale Stützen haben. [Hervorhebungen – R. S.]
Zu diesen „lärmenden“ Richtungen gehören auch die „Sozialrevolutionäre“, deren Gesicht sich immer klarer abzeichnet. Und es ist wirklich schon an der Zeit, dass sich das Proletariat dieses Gesicht aufmerksam ansieht und sich restlos Rechenschaft ablegt, was diese Leute in Wirklichkeit sind, die um so eifriger seine Freundschaft suchen, je mehr sie fühlen, dass sie als besondere Richtung, ohne enge Fühlungnahme mit der wirklich revolutionären Gesellschaftsklasse nicht existieren können.
Drei Umstände haben vor allem dazu beigetragen, das Gesicht der Sozialrevolutionäre ins wahre Licht zu rücken. Erstens die Spaltung zwischen der revolutionären Sozialdemokratie und dem Opportunismus, der unter dem Banner der „Kritik des Marxismus“ sein Haupt erhebt. Zweitens die Tötung Sipjagins durch Balmaschow und der neue Stimmungsumschwung mancher Revolutionäre zugunsten des Terrors. Drittens und hauptsächlich die jüngste Bewegung der Bauernschaft, welche die Leute, die gewohnheitsmäßig zwischen zwei Stühlen sitzen und keinerlei Programm haben, gezwungen hat, post factum [ nachträglich. Die Red.] mit irgend etwas, das einem Programm halbwegs ähnlich sieht, an die Öffentlichkeit zu treten. Untersuchen wir diese drei Umstände, freilich mit dem Vorbehalt, dass wir in einem Zeitungsartikel nur kurz die Hauptpunkte der Beweisführung umreißen können und wahrscheinlich in einer Zeitschrift oder Broschüre gründlicher darauf eingehen müssen.
Mit einer grundsätzlich-theoretischen Erklärung sind die Sozialrevolutionäre erst in Nr. 2 des „Westnik Russkoi Rewoluzii“ an die Öffentlichkeit getreten, und zwar in dem nicht gezeichneten redaktionellen Artikel: „Die internationale Entwicklung und die Krise des Sozialismus“. Wir empfehlen diesen Artikel aufs wärmste allen denen, die eine klare Vorstellung von völliger theoretischer Prinzipienlosigkeit und Wankelmütigkeit (wie auch von der Kunst, diese mit einem Wortschwall zu verdecken) haben wollen. Der ganze Inhalt dieses höchst bemerkenswerten Artikels kann in wenigen Worten wiedergegeben werden. Der Sozialismus ist zu einer Weltmacht geworden, der Sozialismus (=Marxismus) spaltet sich jetzt infolge des Krieges der Revolutionäre (der „Orthodoxen“) gegen die Opportunisten (die „Kritiker“). Wir, die Sozialrevolutionäre, haben „natürlich“ mit dem Opportunismus nie sympathisiert, aber wir springen und tanzen vor Freude über die „Kritik“, die uns vom Dogma befreit hat, wir wollen dieses Dogma ebenfalls revidieren – und obwohl wir noch keine Spur von Kritik (außer bürgerlich-opportunistischer) aufzuweisen haben, obwohl wir noch nicht das geringste revidiert haben, muss uns diese Freiheit von jeder Theorie doch als ausgesprochenes Verdienst angerechnet werden. Es muss uns so mehr als Verdienst angerechnet werden, weil wir als Leute, die frei von jeder Theorie sind, ganz entschieden für eine allgemeine Vereinigung eintreten und alle grundsätzlich-theoretischen Streitigkeiten aufs schärfste verurteilen. „Eine ernste revolutionäre Organisation“, versichert uns todernst der „Westnik Russkoi Rewoluzii“ (Nr. 2, S. 127), „würde auf die Lösung von Streitfragen der sozialen Theorie verzichten, die ewig Unfrieden stiften, was natürlich die Theoretiker nicht hindern soll, deren Lösung zu suchen“ – oder einfacher: Der Schriftsteller mag schreiben, wie’s kommt, der Leser mag lesen, wie’s kommt, wir aber wollen uns, solange die andern sich herumstreiten, über den frei gewordenen leeren Platz freuen.
Eine ernste Analyse dieser Theorie der Enthaltung vom Sozialismus (nur wegen Auseinandersetzungen) kommt selbstverständlich nicht in Frage. Unseres Erachtens verpflichtet die Krise des Sozialismus alle halbwegs ernsten Sozialisten gerade dazu, der Theorie gesteigerte Aufmerksamkeit zuzuwenden, entschlossener eine streng bestimmte Haltung einzunehmen und sich schärfer von den schwankenden und unzuverlässigen Elementen abzugrenzen. Nach Meinung der Sozialrevolutionäre aber ist es für uns Russen, da „sogar die Deutschen“ sich spalten und auseinanderlaufen, geradezu Gottes Gebot, darauf stolz zu sein, dass wir selber nicht wissen, wohin wir treiben. Unseres Erachtens verliert eine revolutionäre Richtung, wenn die Theorie fehlt, ihre Daseinsberechtigung und ist unweigerlich, früher oder später, zum politischen Bankrott verurteilt. [Hervorhebungen – R. S.] Nach Meinung der Sozialrevolutionäre aber ist es eine recht gute, „für die Vereinigung“ besonders günstige Sache, wenn die Theorie fehlt. Wir werden uns, wie man sieht, mit ihnen nicht verständigen können, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Eine Hoffnung ist geblieben: vielleicht wird Herr Struve sie zur Vernunft bringen, der ebenfalls (nur etwas ernster) von der Abschaffung des Dogmas spricht und der meint, es sei „unsere“ Sache (wie auch die Sache jeder Bourgeoisie, die sich an das Proletariat wendet), nicht zu trennen, sondern zu vereinen. Werden die Sozialrevolutionäre mit Hilfe des Herrn Struve nicht doch einmal einsehen, welche wirkliche Bedeutung ihr Standpunkt der Befreiung vom Sozialismus zum Zwecke der Vereinigung und der Vereinigung aus Anlass der Befreiung vom Sozialismus hat?
Gehen wir zum zweiten Punkt über, zur Frage des Terrors.
Die Sozialrevolutionäre, die den Terror verteidigen, dessen Untauglichkeit durch die Erfahrung der russischen revolutionären Bewegung so klar bewiesen ist, sind eifrigst bemüht zu erklären, dass sie den Terror nur zusammen mit der Arbeit unter den Massen anerkennen und dass daher die Argumente, mit denen die russischen Sozialdemokraten die Zweckmäßigkeit einer solchen Kampfmethode widerlegt haben (und für lange Zeit widerlegt haben), sich nicht auf sie beziehen. Hier wiederholt sich eine Geschichte, die ihrer Einstellung zur „Kritik“ sehr ähnlich sieht. Wir sind keine Opportunisten, schreien die Sozialrevolutionäre und legen gleichzeitig das Dogma des proletarischen Sozialismus – auf Grund keiner anderen als einer opportunistischen Kritik – zu den Akten. Wir wiederholen nicht die Fehler der Terroristen, wir lenken nicht ab von der Arbeit unter den Massen, versichern die Sozialrevolutionäre und empfehlen gleichzeitig der Partei aufs wärmste solche Aktionen wie die Tötung Sipjagins durch Balmaschow, obwohl jedermann ausgezeichnet weiß und sieht, dass diese Tat in keinerlei Verbindung mit den Massen stand und nach der Art, wie sie vollbracht wurde, auch nicht stehen konnte, dass die Leute, die diese Tat vollbrachten, gar nicht auf eine bestimmte Aktion oder Unterstützung der Menge gerechnet und gehofft hatten. Die Sozialrevolutionäre bemerken naiverweise nicht, dass ihre Neigung zum Terror ursächlich aufs engste mit der Tatsache zusammenhängt, dass sie von Anfang an abseits von der Arbeiterbewegung standen und auch weiterhin abseits von ihr stehen, ohne auch nur bestrebt zu sein, zur Partei der ihren Klassenkampf führenden revolutionären Klasse zu werden. Eifriges Schwören veranlasst einen sehr oft, aufzuhorchen und die Aufrichtigkeit dessen anzuzweifeln, was eine so scharfe Würze erfordert. Und ich muss häufig an die Worte denken: Werden sie denn des Schwörens nicht müde?, wenn ich die Beteuerungen der Sozialrevolutionäre lese: Durch Terror rücken wir die Arbeit unter den Massen nicht in den Hintergrund. Beteuern das doch dieselben Leute, die von der [linken] sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, welche die Massen tatsächlich auf die Beine bringt, bereits abgerückt sind und auch weiterhin von ihr abrücken, wobei sie sich an Bruchstücke beliebiger Theorien klammern.
Als ausgezeichnete Illustration des Gesagten kann das von der „Partei der Sozialrevolutionäre“ herausgegebene Flugblatt vom 3. April 1902 dienen. Es ist die lebendigste, den unmittelbaren Führern am nächsten stehende, zuverlässigste Quelle. „Die Stellung zur Frage des terroristischen Kampfes deckt sich“ in diesem Flugblatt nach dem wertvollen Zeugnis der „Rewoluzionnaja Rossija“ (Nr. 7, S. 24) „vollständig mit der Ansicht der Partei.“ *
Das Flugblatt vom 3. April kopiert mit bemerkenswerter Treue die Schablone der „neuesten“ Beweisführung der Terroristen. Vor allem springen einem die Worte ins Auge: „Wir rufen zum Terror auf nicht anstatt der Arbeit unter den Massen, sondern gerade für diese Arbeit und zugleich mit ihr.“ Und zwar springen sie ins Auge, weil sie in dreimal so großen Lettern gedruckt sind wie der übrige Text (was die „Rewoluzionnaja Rossija“ natürlich nachahmt). In der Tat, wie einfach: man braucht nur „nicht anstatt, sondern zugleich“ fett zu drucken – und alle Einwände der Sozialdemokraten, alle Lehren der Geschichte fallen sofort in sich zusammen. Aber man nehme sich die Mühe, das ganze Flugblatt durchzulesen und man wird sehen, dass die fettgedruckten Beteuerungen Missbrauch treiben mit dem Namen der Massen. – Die Zeit, „da das Arbeitervolk aus dem Dunkel hervortreten“ und in „machtvoller Volksbewegung das eiserne Tor zerschmettern wird, bricht“ – „leider!“ (buchstäblich so: leider!) „noch nicht so bald an, und furchtbar ist der Gedanke, wie viele Opfer es dabei geben wird!“ Bringen diese Worte: „leider noch nicht so bald“ etwa nicht ein völliges Unverständnis für die Massenbewegung und einen Unglauben an sie zum Ausdruck? Ist diese Behauptung etwa nicht absichtlich zum Hohn auf die Tatsache ersonnen, dass das Arbeitervolk sich bereits zu erheben beginnt? Und schließlich, selbst wenn diese abgedroschene Behauptung ebenso begründet wäre, wie sie in Wirklichkeit unsinnig ist, so würde sich aus ihr besonders randgreiflich die Untauglichkeit des Terrors ergeben, denn ohne das Arbeitervolk sind alle Bomben machtlos, offenkundig machtlos.
Man höre weiter: „Jeder terroristische Schlag nimmt gleichsam der Selbstherrschaft einen Teil ihrer Kraft und verlagert (!) diese ganze Kraft (!) auf die Seite der Freiheitskämpfer.“ „Und wird der Terror systematisch (!) durchgeführt, so ist es klar, dass unsere Waagschale schließlich das Übergewicht haben wird.“ Ja, ja, es ist für jeden klar, dass wir es hier mit dem größten Vorurteil der Terroristen in seiner gröbsten Form zu tun haben: der politische Mord „verlagert die Kraft“ ganz von selbst! Hier haben wir einerseits die Theorie von der Verlagerung der Kraft, und andererseits – „nicht anstatt, sondern zugleich“... Werden sie denn des Schwörens nicht müde?
Aber das sind erst die Blüten. Die Früchte kommen noch. „Gegen wen soll sich der Schlag richten?“ fragt die Partei der Sozialrevolutionäre und antwortet: Gegen die Minister, nicht gegen den Zaren, denn „der Zar wird es nicht zum Äußersten kommen lassen“ (!! woher wissen sie das??), außerdem „ist das auch leichter“ (so heißt es wörtlich!): „Kein Minister kann sich im Schloss verschanzen wie in einer Festung.“ Und diese Beweisführung schließt mit folgender Erwägung, die es verdient, als Musterbeispiel der sozialrevolutionären „Theorie“ verewigt zu werden: „Gegen die Volksmenge hat die Selbstherrschaft Soldaten, gegen die revolutionären Organisationen – die geheime und die öffentliche Polizei, was wird sie aber retten...“ (Wen sie? die Selbstherrschaft? der Verfasser hat, ohne es zu merken, die Selbstherrschaft bereits jenem Minister gleichgesetzt, den man leichter treffen kann!) „... vor einzelnen Personen oder kleinen Zirkeln, die sich unaufhörlich, ohne sogar einander zu kennen (!!), zum Angriff vorbereiten und angreifen? Keine Macht wird gegen die Unauffindbarkeit helfen. Unsere Aufgabe ist also klar: jeden mächtigen Gewalttäter der Selbstherrschaft durch das einzige Mittel absetzen, das die Selbstherrschaft uns gelassen hat (!) – durch den Tod.“ Wieviel Berge von Papier die Sozialrevolutionäre auch verschreiben mögen, um zu versichern, dass sie durch ihre Terrorpropaganda die Arbeit unter den Massen nicht hintansetzen, nicht desorganisieren, es wird ihnen nicht gelingen, durch ihren Wortschwall die Tatsache zu widerlegen, dass die wirkliche Mentalität des heutigen Terroristen gerade durch das angeführte Flugblatt richtig wiedergegeben wird. Die Theorie von der Verlagerung der Kraft findet ihre natürliche Ergänzung in der Theorie von der Unauffindbarkeit, einer Theorie, die nicht nur die ganze Erfahrung der Vergangenheit, sondern auch jeden gesunden Menschenverstand endgültig auf den Kopf stellt. Dass die einzige „Hoffnung“ der Revolution die „Menge“ ist, dass gegen die Polizei einzig und allein eine revolutionäre Organisation kämpfen kann, die (in der Tat, nicht in Worten) diese Menge führt, ist eine Binsenweisheit. Eine Schande, das beweisen zu müssen! Und nur Leute, die alles vergessen und absolut nichts hinzugelernt haben, konnten den „umgekehrten“ Schluss ziehen und sich zu dem hanebüchenen, himmelschreienden Blödsinn versteigen, dass die Selbstherrschaft vor der Menge durch die Soldaten „gerettet“ werden könne, vor den revolutionären Organisationen durch die Polizei, dass es aber vor Einzelgängern, die auf die Minister Jagd machen, keine Rettung gebe!!
Diese hanebüchene Behauptung, der es, davon sind wir überzeugt, beschieden sein wird, Berühmtheit zu erlangen, ist durchaus kein bloßes Kuriosum. Nein, sie ist sehr lehrreich, weil sie den Grundfehler, der Terroristen, den diese mit den Ökonomisten gemein haben vielleicht muss man schon sagen: mit den einstigen Vertretern des seligen Ökonomismus? [31]), kühn ad absurdum führt und dadurch entlarvt. Dieser Fehler besteht, worauf wir schon oft hingewiesen haben, im Nichtverstehen des Hauptmangels unserer Bewegung. Da die Bewegung sich ungewöhnlich rasch entwickelt hat, sind die Führer hinter den Massen zurückgeblieben, die revolutionären Organisationen haben sich der revolutionären Aktivität des Proletariats nicht gewachsen gezeigt, sie sind unfähig, den Massen voranzugehen und sie zu führen. Dass ein solches Missverhältnis besteht, daran wir kein gewissenhafter Mensch zweifeln, der die Bewegung auch nur einigermassen kennt. Ist dem aber so, so ist auch klar, dass die heutigen Terroristen in Wirklichkeit umgestülpte Ökonomisten sind, die in ein ebenso unvernünftiges, aber entgegengesetztes Extrem verfallen. In einer Zeit, wo es den Revolutionären an Kräften und Mitteln zur Führung der sich bereits erhebenden Masse mangelt, zu einem Terror aufzurufen, der in der Organisierung von Anschlägen auf Minister durch Einzelgänger und voneinander nichts wissende Zirkel besteht – das bedeutet, eben dadurch die Arbeit unter den Massen nicht nur einzustellen, sondern auch direkt zu desorganisieren. – Wir Revolutionäre „sind gewohnt, uns schüchtern in einem Haufen zusammenzudrängen“, lesen wir in dem Flugblatt vom 3. April, „und sogar (NB) der neue, kühne Geist, der in den letzten zwei, drei Jahren zu spüren ist, hat bisher mehr die Stimmung der Menge als der Einzelgänger gehoben“. Diese Worte enthalten viel unabsichtlich ausgesprochene Wahrheit. Und gerade diese Wahrheit schlägt die Prediger des Terrorismus aufs Haupt. Aus dieser Wahrheit zieht jeder denkende Sozialist den Schluss. Man muss entschlossener, kühner und organisierter, muss als Haufen handeln. Die Sozialrevolutionäre aber orakeln: „Schieß, unauffindbarer Einzelgänger, denn der Haufen wird leider noch nicht bald so weit sein, und außerdem gibt es Soldaten gegen den Haufen.“ Das ist der Gipfel der Unvernunft, meine Herren!
In dem Flugblatt fehlt auch nicht die Theorie vom existierenden Terror. „Jeder Zweikampf eines Helden weckt in uns allen Kampfgeist und Mut“, sagt man uns. Wir aber wissen aus der Vergangenheit und sehen in der Gegenwart, dass nur neue Formen der Massenbewegung oder das Erwachen neuer Schichten der Masse zum selbständigen Kampf wirklich in allen Kampfgeist und Mut wecken. Die Zweikämpfe aber, gerade insoweit sie Balmaschowsche Zweikämpfe bleiben, rufen unmittelbar nur eine rasch vorübergehende Sensation hervor, während sie mittelbar sogar zur Apathie, zum passiven Abwarten des nächsten Zweikampfes führen. Man versichert uns weiter, dass „jeder Blitz des Terrors den Geist erleuchtet“, was wir bedauerlicherweise an der Partei der Sozialrevolutionäre, die den Terror predigt, nicht wahrgenommen haben. Man tischt uns die Theorie von großer und kleiner Arbeit auf: „Wer mehr Kraft, mehr Gelegenheit und Entschlossenheit hat, der soll ein großes Werk suchen und sich ihm hingeben – der Propaganda des Terrors unter den Massen (!), der Vorbereitung schwieriger...“ (die Theorie der Unauffindbarkeit ist schon vergessen!) „... terroristischer Aktionen.“ Wie außerordentlich klug, nicht wahr: das Leben eines Revolutionärs hingeben für einen Racheakt an dem Schurken Sipjagin, an dessen Stelle der Schurke Plehwe tritt – das ist große Arbeit. Die Massen aber beispielsweise zu einer bewaffneten Demonstration vorbereiten – das ist kleine Arbeit. Und genau das setzt die „Rewoluzionnaja Rossija“ in Nr. 8 auseinander, wenn sie erklärt, es sei „leicht“, von bewaffneten Demonstrationen „als von etwas in einer unbestimmt fernen Zukunft Liegenden zu schreiben und zu reden“, „doch hatten alle diese Redereien bisher rein theoretischen Charakter“. Wie gut kennen wir diese Sprache von Leuten, die frei sind von dem Zwang fester sozialistischer Überzeugungen, von der lästigen Erfahrung jedweder Volksbewegung! Das unmittelbar Handgreifliche und Sensationelle der Ergebnisse verwechseln sie mit dem Praktischen. Die Forderung, unbeugsam auf dem Klassenstandpunkt zu stehen und den Massencharakter der Bewegung zu wahren, ist für sie ein „unbestimmtes“ „Theoretisieren“. Bestimmtheit ist in ihren Augen: jedem Stimmungsumschwung sklavisch folgen und ... und infolgedessen unweigerlich bei jedem Umschwung hilflos dastehen. Es beginnen Demonstrationen – und von diesen Leuten kommt ein blutrünstiger Wortschwall, ein Gefasel über den Anfang vom Ende. Die Demonstrationen hören auf – sie lassen die Hände sinken und brechen, ehe sie sich die Schuhsohlen abgelaufen haben, in Geschrei aus: „Das Volk wird leider noch nicht so bald...“ Eine neue Niedertracht der zaristischen Gewalttäter – und sie verlangen, dass man ihnen ein „bestimmtes“ Mittel zeige, das als erschöpfende Antwort gerade auf diese Gewalttat dienen könne, ein Mittel, das eine sofortige „Verlagerung der Kraft“ ermögliche, und stolz versprechen sie diese Verlagerung! Solche Leute verstehen nicht, dass schon allein dieses Versprechen der „Verlagerung“ der Kraft politisches Abenteuertum ist und dass ihr Abenteuertum von ihrer Prinzipienlosigkeit herrührt.
Die [linke] Sozialdemokratie wird stets vor Abenteuertum warnen und unerbittlich Illusionen entlarven, die zwangsläufig mit völliger Enttäuschung enden. Wir dürfen nicht vergessen, dass eine revolutionäre Partei nur dann ihren Namen verdient, wenn sie in der Tat die Bewegung der revolutionären Klasse leitet. Wir dürfen nicht vergessen, dass jede Volksbewegung unendlich mannigfaltige Formen annimmt, dass sie ständig neue Formen herausbildet, alte abstreift, Modifikationen oder neue Kombinationen alter und neuer Formen hervorbringt. Und es ist unsere Pflicht, an diesem Prozess der Herausbildung von Methoden und Mitteln des Kampfes aktiv teilzunehmen. Als sich die Studentenbewegung zuspitzte, riefen wir die Arbeiter auf, den Studenten zu Hilfe zu kommen („Iskra“ Nr. 2), ohne die Formen der Demonstrationen vorauszusagen, ohne als ihr Ergebnis eine sofortige Verlagerung der Kraft oder eine Erleuchtung des Geistes oder eine besondere Unauffindbarkeit zu versprechen. Als die Demonstrationen sich eingebürgert hatten, riefen wir zu ihrer Organisierung, zur Bewaffnung der Massen auf, stellten wir die Aufgabe, den Volksaufstand vorzubereiten. Ohne auch nur im geringsten Gewalt und Terror grundsätzlich abzulehnen, forderten wir, an der Vorbereitung solcher Formen der Gewaltanwendung zu arbeiten, die auf die unmittelbare Beteiligung der Massen berechnet sein und diese Beteiligung gewährleisten sollten. Wir verschließen unsere Augen nicht vor der Schwierigkeit dieser Aufgabe, aber wir werden tatkräftig und hartnäckig an ihr arbeiten, ohne uns durch die Einwände beirren zu lassen, dass dies eine „unbestimmt ferne Zukunft“ sei. Ja, meine Herren, wir sind auch für die zukünftigen und nicht nur für die vergangenen Formen der Bewegung. Wir ziehen eine langwierige und schwierige Arbeit an dem, was eine Zukunft hat, der „leichten“ Wiederholung dessen vor, was bereits von der Vergangenheit verurteilt worden ist. Wir werden stets die Leute entlarven, die den Krieg gegen die Schablonen des Dogmas im Munde führen, in Wirklichkeit aber nichts aufzuweisen haben als die Schablonen der wurmstichigen und schädlichsten Theorien von der Verlagerung der Kraft, vom Unterschied zwischen großer und kleiner Arbeit und natürlich auch der Theorie vom Zweikampf, vom Duell. „Wie einst in den Schlachten der Völker, deren Führer im Zweikampf die Entscheidung herbeigeführt haben, so werden auch die Terroristen im Zweikampf mit der Selbstherrschaft Russland die Freiheit erobern.“ So schließt das Flugblatt vom 3. April. Solche Phrasen braucht man nur nachzudrucken, um sie zu widerlegen.
Wer wirklich seine revolutionäre Arbeit in Verbindung mit dem Klassenkampf des Proletariats leistet, der weiß, sieht und fühlt sehr wohl, wieviel unmittelbare, direkte Anforderungen des Proletariats (und der Volksschichten, die fähig sind, es zu unterstützen) unbefriedigt bleiben. Der weiß, dass in zahllosen Orten, in riesigen Gebieten das Arbeitervolk buchstäblich zum Kampfe drängt, dass aber seine Begeisterung aus Mangel an Aufklärungsschriften und Führern, an Kräften und Mitteln der revolutionären Organisationen nutzlos verpufft. Und wir drehen uns – wir sehen, dass es so ist– in demselben verfluchten fehlerhaften Kreis, der wie ein böses Verhängnis so lange auf der russischen Revolution gelastet hat. Einerseits verpufft die revolutionäre Begeisterung der ungenügend aufgeklärten und unorganisierten Massen wirkungslos. Andererseits verpuffen die Schüsse der „unauffindbaren Einzelgänger“ wirkungslos, die den Glauben an die Möglichkeit verlieren, in Reih und Glied zu marschieren, Hand in Hand mit der Masse zu arbeiten.
Aber dem Übel ist durchaus noch abzuhelfen, Genossen! Der Verlust des Glaubens an die wirkliche Arbeit ist nur eine seltene Ausnahme. Die Leidenschaft für den Terror ist nicht mehr als eine flüchtige Stimmung. Die Sozialdemokraten müssen ihre Reihen noch fester schließen, und wir werden die Kampforganisation der Revolutionäre und den Massenheroismus des russischen Proletariats zu einem einheitlichen ganzen zusammenschweißen! «
(„Iskra“ Nr. 23 und 24, 1. August und 1. September 1902. Werke, Bd. 6, S. 178–188.)
* Allerdings macht die „Rewoluzionnaja Rossija“ auch hier eigenartige Seiltänzerkunststücke. Einerseits – „deckt sich vollständig“, andererseits – eine Anspielung auf „Übertreibungen“. Einerseits erklärt die „Rewoluzionnaja Rossija“, dass dieses Flugblatt nur von „einer Gruppe“ der Sozialrevolutionäre ausgehe, andererseits besteht die Tatsache, dass dieses Flugblatt die Unterschrift trägt: „Herausgegeben von der Partei der Sozialrevolutionäre“, und außerdem wird der Wahlspruch eben der „Rewoluzionnaja Rossija“ wiederholt („Im Kampfe erwirbst du dein Recht“). Wir verstehen, dass es der „Rewoluzionnaja Rossija“ unangenehm ist, diesen heiklen Punkt zu berühren, aber wir meinen, dass es geradezu unanständig ist, in solchen Fällen Verstecken zu spielen. Der revolutionären Sozialdemokratie war die Existenz des Ökonomismus auch unangenehm, aber sie hat ihn öffentlich entlarvt und niemals jemanden irrezuführen versucht.«
Anmerkung
31 Ökonomismus – opportunistische Strömung in der Sozialdemokratie Russlands Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, eine Spielart des internationalen Opportunismus. Die „Ökonomisten“ reduzierten die Aufgaben der Arbeiterklasse auf den ökonomischen Kampf um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen u. dgl. m. Sie behaupteten, der politische Kampf sei die Sache der liberalen Bourgeoisie. Als Anbeter der Spontanität der Arbeiterbewegung bagatellisierten die „Ökonomisten“ die Bedeutung der revolutionären Theorie, leugneten die Notwendigkeit, die Arbeiterbewegung zum sozialistischen Bewusstsein zu erwecken und bestritten die Notwendigkeit, eine selbständige, zentralisierte Partei der Arbeiterklasse zu bilden.
Quelle: W. I. Lenin. Gegen Dogmatismus und Sektierertum in der Arbeiterbewegung. Eine Auswahl von Schriften und Reden. Zusammengestellt von N. G. Semrjugina. Verlag Progress Moskau 1972.
VON: N. G. SEMRJUGINA - REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)