von N. G. Semrjugina - Reinhold Schramm (Bereitstellung)
Eine Auswahl von Schriften und Reden – Zusammengestellt
[Teil 8]
Aus dem Artikel „Marxismus und Revisionismus“
»Die Unvermeidlichkeit des Revisionismus ist durch seine Klassenwurzeln in der modernen Gesellschaft bedingt. Der Revisionismus ist eine internationale Erscheinung. Für jeden einigermaßen erfahrenen und denkenden Sozialisten kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass das Verhältnis zwischen Orthodoxen und Bernsteinianern in Deutschland [40], Guesdisten und Jaurésisten * (jetzt besonders Broussisten **) in Frankreich [41], zwischen der Sozialdemokratischen Föderation und der Unabhängigen Arbeiterpartei in England, zwischen der Brouckère und Vandervelde in Belgien, Integralisten [42] und Reformisten in Italien, Bolschewiki und Menschewiki in Russland im Grunde genommen überall von gleicher Art ist, trotz größter Mannigfaltigkeit der nationalen Bedingungen und der geschichtlichen Momente in der gegenwärtigen Situation aller dieser Länder. Die „Scheidung“ innerhalb des heutigen internationalen Sozialismus verläuft in den verschiedenen Ländern der Welt heute schon im Grunde genommen auf einer Linie und dokumentiert damit den gewaltigen Fortschritt gegenüber der Lage vor 30–40 Jahren, als sich in den verschiedenen Ländern innerhalb des einheitlichen internationalen Sozialismus verschiedenartige Tendenzen bekämpften. Und jener „Revisionismus von links“, der heute in romanischen Ländern als „revolutionärer Syndikalismus“ [43] auftritt, passt sich ebenfalls dem Marxismus an, indem er ihn „korrigiert“: Labriola in Italien, Lagardelle in Frankreich appellieren auf Schritt und Tritt vom falsch verstandenen an den richtig verstandenen Marx.«
* Abgeleitet von Jaures, J.
** Abgeleitet von Brousse, P.
Geschrieben in der zweiten Märzhälfte, nicht später als am 3. [16.] April 1908. Veröffentlicht zwischen dem 25. September und 2. Oktober (8. und 15. Oktober) 1908 im Sammelband „Karl Marx (1818–1883), St. Petersburg, Verlag O. und M. Kedrow. Unterschrift: WI. Iljin. / Werke, Bd. 15, S. 26–27.
Aus den Resolutionen der Beratung der erweiterten Redaktion des „Proletari“ [44].
Über Otsowismus und Ultimatismus
»Die vom revolutionären Flügel unserer Partei aufgestellte Losung des Boykotts der Bulyginschen und der I. Reichsduma hat seinerzeit eine große revolutionäre Rolle gespielt und die aktivsten und revolutionärsten Schichten der Arbeiterklasse in Bewegung gebracht.
Der unmittelbare revolutionäre Kampf der breiten Massen wurde durch eine drückend schwere Periode der Konterrevolution abgelöst; für die Sozialdemokraten ergab sich die Notwendigkeit, ihre revolutionäre Taktik auf diese neue politische Lage auszurichten, und im Zusammenhang damit wurde unter anderem die Ausnutzung der öffentlichen Dumatribüne zur Unterstützung der sozialdemokratischen Agitations- und Organisationsarbeit zu einer im höchsten Grade wichtigen Aufgabe.
Dabei aber vermochte ein Teil der Arbeiter, die am unmittelbaren revolutionären Kampf teilgenommen haben, bei diesem raschen Wechsel der Ereignisse nicht sofort die revolutionäre sozialdemokratische Taktik unter den neuen Verhältnissen der Konterrevolution anzuwenden und verharrte auf der einfachen Wiederholung der Losungen, die in der Epoche des offenen Bürgerkrieges revolutionär waren, jetzt aber, bei bloßer Wiederholung, nur geeignet sind, den Prozess des Zusammenschlusses des Proletariats unter den neuen Bedingungen des Kampfes aufzuhalten.
Andererseits entstand auf dem Boden dieser komplizierten Wendung, in der Atmosphäre des abflauenden revolutionären Kampfes, der Apathie und Kopflosigkeit sogar bei einem Teil der Arbeiter, in der Periode der Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen und ihrer mangelnden Widerstandskraft gegen die zersetzenden Einflüsse, bei einem Teil der Arbeiterklasse eine indifferente Haltung gegenüber dem politischen Kampf überhaupt und besonders eine starke Gleichgültigkeit gegenüber der Arbeit der [revolutionären] Sozialdemokratie in der Duma.
In diesen Schichten des Proletariats können unter solchen Verhältnissen der sogenannte Otsowismus und Ultimatismus vorübergehend Anklang finden.
Die Arbeit der III. Duma, die offen die Nöte der Arbeiter verhöhnt, verstärkt noch die Stimmung für die Abberufung unserer Dumaabgeordneten in diesen Arbeiterschichten, denn sie sind infolge ihrer unzulänglichen [revolutionär-emanzipatorischen] sozialdemokratischen Erziehung noch nicht imstande zu begreifen, dass gerade diese Tätigkeit der III. Duma es den [linken] Sozialdemokraten gestattet, diese Vertretung der Ausbeuterklassen auf revolutionäre Weise auszunutzen, um breite Schichten des Volkes über den wahren Charakter der Selbstherrschaft und aller konterrevolutionären Kräfte sowie über die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes aufzuklären.
Die otsowistische Stimmung unter diesem Teil der Arbeiter wurde darüber hinaus durch jene sehr schwerwiegenden Fehler genährt, die die sozialdemokratische Dumafraktion besonders im ersten Jahr ihrer Tätigkeit begangen hatte.
Angesichts dessen, dass diese otsowistische Stimmung die sozialistische und revolutionäre Erziehung der Arbeiterklasse beeinträchtigt, hält es die bolschewistische Fraktion für notwendig:
a) hinsichtlich dieser Arbeiterschichten eine langwierige sozialdemokratische Erziehungs- und Organisationsarbeit zu leisten, eine systematische und beharrliche Aufklärung einzuleiten über die ganze politische Unfruchtbarkeit des Otsowismus und Ultimatismus, über die wirkliche Bedeutung des sozialdemokratischen Parlamentarismus und über die Rolle der Dumatribüne für die [revolutionären] Sozialdemokraten in der Periode der Konterrevolution;
b) hinsichtlich der sozialdemokratischen Dumafraktion und der Arbeit in der Duma überhaupt eine enge Verbindung zwischen der Dumafraktion und den fortschrittlichen Arbeitern herzustellen, die Dumafraktion allseitig zu unterstützen und organisiert zu kontrollieren und durch die gesamte Partei Druck auf sie auszuüben, unter anderem auch durch offene Diskussion über ihre Fehler; die Anleitung der Tätigkeit der Fraktion, als eines Organs der Partei durch die Partei wirklich in Angriff zu nehmen und überhaupt zu erreichen, dass die in der letzten allgemeinen Parteikonferenz hierüber gefassten Beschlüsse von den Bolschewiki praktisch durchgeführt werden, denn nur eine intensivere Aufmerksamkeit in Arbeiterkreisen für die Tätigkeit der sozialdemokratischen Dumafraktion und die organisierte Mitwirkung der Arbeiter an der Tätigkeit der [revolutionären] Sozialdemokratie in der Duma vermag die Taktik unserer Dumafraktion wirklich konsequent zu gestalten;
c) hinsichtlich des rechten Flügels der Partei, der die Dumafraktion auf einen parteifeindlichen Weg zerrt und sie dadurch dem Vortrupp der Arbeiter entfremdet, einen systematischen, unversöhnlichen Kampf zu führen und diese für die Partei verderbliche Taktik zu brandmarken.
Im Zuge der bürgerlich-demokratischen Revolution sind mancherlei Elemente zu unserer Partei gestoßen, die nicht durch deren rein proletarisches Programm, sondern vernehmlich durch deren zielbewussten und energischen Kampf für die Demokratie angelockt wurden und die sich die revolutionär-demokratischen Losungen der proletarischen Partei außerhalb ihres Zusammenhangs mit dem gesamten Kampf des sozialistischen Proletariats angeeignet haben.
Solche nicht genügend vom proletarischen Bewusstsein erfüllten Elemente kamen auch in unserer bolschewistischen Fraktion ans Licht. In der heutigen schweren Zeit zeigen diese Elemente immer stärker ihre ungenügende sozialdemokratische Standhaftigkeit und bildeten, in immer schrofferen Widerspruch zu den Grundlagen der revolutionären sozialdemokratischen Taktik geratend, im letzten Jahr eine Strömung, die der Theorie des Otsowismus und des Ultimatismus feste Formen zu geben sucht, in Wirklichkeit aber nur die falschen Vorstellungen vom sozialdemokratischen Parlamentarismus und von der Arbeit der Sozialdemokraten in der Duma zum Prinzip erhebt und vertieft.
Diese Versuche, aus der otsowistischen Stimmung ein ganzes System otsowistischer Politik zu machen, führen zu einer Theorie, die im Grunde genommen die Ideologie des politischen Indifferentismus einerseits und der anarchistischen Verirrungen andererseits zum Ausdruck bringt. Bei allen ihren revolutionären Phrasen bildet die Theorie des Otsowismus und Ultimatismus in Wirklichkeit weitgehend die Kehrseite der Verfassungsillusionen, die mit der Hoffnung verknüpft sind, dass die Reichsduma selbst diese oder jene dringlichen Forderungen des Volkes befriedigen könne; und sie ersetzt im Grunde genommen die proletarische Ideologie durch kleinbürgerliche Tendenzen.
Nicht geringeren Schaden als der offene Otsowismus fügt der sogenannte Ultimatismus der sozialdemokratischen Arbeit zu (d. h. jene Richtung, die die Ausnutzung der Tribüne der dritten Duma prinzipiell ablehnt bzw. ihre Ablehnung, dieser Verpflichtung nachzukommen, durch praktische Erwägungen zu rechtfertigen sucht und, in dem Bestreben, die sozialdemokratische Dumafraktion abzuberufen, die langwierige Arbeit an der Erziehung und klaren Ausrichtung der Dumafraktion durch ein kurzfristiges Ultimatum ersetzt). Politisch unterscheidet sich der Ultimatismus gegenwärtig vom Otsowismus in nichts, er richtet durch den verschleierten Charakter seines Otsowismus nur noch größere Verwirrung und Zerfahrenheit an. Die Versuche des Ultimatismus, einen unmittelbaren Zusammenhang seiner Taktik mit der Boykottaktik zu konstruieren, die unsere Fraktion in einem bestimmten Moment der Revolution verfolgt hat, verdrehen lediglich den wirklichen Sinn und Charakter des von der weitaus überwiegenden Mehrheit unserer Partei absolut richtig angewandten Boykotts der Bulyginschen und der I. Reichsduma. Der Versuch des Otsowismus und des Ultimatismus, aus einzelnen Fällen der Anwendung des Boykotts von Vertretungskörperschaften in dem einen oder anderen Moment der Revolution eine Linie des Boykotts als ein die Taktik des Bolschewismus auch in der Periode der Konterrevolution kennzeichnendes Merkmal abzulehnen, erweist, dass diese Strömungen im Grund genommen nur die Kehrseite des Menschewismus sind, der eine Beteiligung an allen Vertretungskörperschaften in Bausch und Bogen predig, unabhängig von der jeweiligen Entwicklungsetappe der Revolution, unabhängig davon, ob ein revolutionärer Aufschwung zu verzeichnen ist oder nicht.
Alle bisher vom Otsowismus und vom Ultimatismus unternommenen Versuche, ihre Theorie prinzipiell zu begründen, führen unvermeidlich zur Negierung der Grundlagen des revolutionären Marxismus. Die von ihnen vorgesehene Taktik führt zum vollständigen Bruch mit der auf die gegenwärtigen russischen Verhältnisse angewandten Taktik des linken Flügels der internationalen [revolutionär-emanzipatorischen] Sozialdemokratie, weil sie anarchistische Abweichungen zeitigt.
Die otsowistisch-ultimatistische Agitation hat der Arbeiterbewegung und der sozialdemokratischen Tätigkeit bereits zu schaden begonnen. Wird sie weiter betrieben, kann sie zu einer Gefahr für die Einheit der Partei werden, hat sie doch bereits so widerwärtige Ausgeburten hervorgebracht wie die Vereinigung der Otsowisten mit den Sozialrevolutionären (in Petersburg), um der Dumavertretung unserer Partei die Unterstützung zu verweigern, und das wiederholte öffentliche Auftreten vor Arbeitern gemeinsam mit ausgeprägten Syndikalisten.
Angesichts alles dessen erklärt die erweiterte Redaktion des „Proletari“, dass der Bolschewismus als eine bestimmte Strömung in der SDAPR mit dem Otsowismus und dem Ultimatismus nichts gemein hat und dass die bolschewistische Fraktion diese Abweichungen vom Wege des revolutionären Marxismus aufs entschiedenste bekämpfen muss.«
[Teil 8]
Veröffentlicht am 3. (16.) Juli 1909 in der Beilage zur Zeitung „Proletari“ Nr. 46. / Werke, Bd. 15, S. 445–449.
Anmerkungen
40 Gemeint ist die opportunistische, dem Marxismus feindliche Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Sozialdemokratie aufkam und nach dem deutschen Sozialdemokraten Eduard Bernstein, dem offensten Prediger des Revisionismus, genannt wurde. Die Revision des Marxismus, deren sich die Bernsteinianer befleißigten, war darauf abgestellt, die Sozialdemokratie aus einer Partei der sozialen Revolution in eine Partei sozialer Reformen zu verwandeln.
Orthodoxe – die deutschen Sozialdemokraten, die sich gegen die Revision des Marxismus wandten.
41 Guesdisten – revolutionäre marxistische Strömung in der französischen sozialistischen Bewegung um die Jahrhundertwende, geleitet von Jules Guesde. Im Jahre 1901 gründeten die Guesdisten die Sozialistische Partei Frankreichs.
Jaurésisten – Anhänger des französischen Sozialisten Jean Jaurés. Sie gründeten 1902 die Französische Sozialistische Partei, die auf reformistischen Positionen stand.
Broussisten – (nach P. Brousse) oder Possibilisten – kleinbürgerliche, reformistische Strömung, entstand in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der französischen sozialistischen Bewegung. Die Possibilisten leugneten das revolutionäre Programm und die revolutionäre Taktik des Proletariats, vertuschten die sozialistischen Ziele der Arbeiterbewegung und schlugen vor, den Kampf der Arbeiter auf den Rahmen des „Möglichen“ (possible) zu beschränken – daher der Name dieser Partei.
42 Integralisten – Strömung in der Italienischen Sozialistischen Partei. Obwohl im ganzen Vertreter des kleinbürgerlichen Sozialismus, kämpften die Integralisten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Fragen gegen die Reformisten, die extrem opportunistische Positionen bezogen und mit der reaktionären Bourgeoisie zusammenarbeiteten.
43 „Revolutionärer Syndikalismus“ – eine halbanarchistische kleinbürgerliche Strömung, die Ende des 19. Jh. in der Arbeiterbewegung mehrerer westeuropäischer Länder aufkam. Die Syndikalisten stellten die Notwendigkeit des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und der Diktatur des Proletariats in Abrede, leugneten die führende Rolle der Partei. Sie waren der Ansicht, die Gewerkschaften (Syndikate) könnten durch Organisation des Generalstreiks der Arbeiter ohne Revolution den Kapitalismus abschaffen und die Leitung der Produktion in die Hand nehmen.
44 „Proletari“ – illegale bolschewistische Zeitung, erschien vom 21. August (3. September) 1906 bis zum 28. November (11. Dezember) 1909 unter der Redaktion Lenins anfangs in Wyborg, später in Genf und Paris. War praktisch das Zentralorgan der Bolschewiki.
Die Beratung der erweiterten Redaktion des „Proletari“ wurde auf Initiative W. I. Lenins einberufen; sie fand vom 8.–17. (21.–30.) Juni 1909 in Paris statt. Zur Diskussion standen die Fragen: Otsowismus und Ultimatismus; die Tätigkeit der Sozialdemokratie in der Duma.
Die Beschlüsse der Beratung hatten große Bedeutung für die gesamte Partei und wurden von den örtlichen Parteiorganisationen gebilligt.
Quelle: W. I. Lenin. Gegen Dogmatismus und Sektierertum in der Arbeiterbewegung. Eine Auswahl von Schriften und Reden. Zusammengestellt von N. G. Semrjugina. Verlag Progress Moskau 1972.
VON: N. G. SEMRJUGINA - REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)