Kubanische Kleinkapitalisten und die gesellschaftlichen Implikationen

02.09.13
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von Gerd Elvers

Mit dem Erscheinen des kubanischen Ratgebers „Ich? Auf eigene Rechnung! Das „ABC“, um ein Geschäft zu verstehen“, ist eine präzise Text- Quelle gegeben, dem Phänomen der „Arbeit auf eigene Rechnung“! (trabajo por cuenta propria) nach zu gehen (1).

Die Arbeit auf eigene Rechnung berührt zentrale Aspekte im aktuellen Sozialismus, nicht nur Kubas sondern auch Chinas und Vietnams: das Verhältnis zwischen privatem und öffen- tlichem Eigentum, zwischen Markt und Plan. Die Fundamente der Produktion in Kuba beruhen auf dem „sozialistischen Eigentum des ganzen Volkes“ (2).

Dem sozialistischen Charakter der Gesellschaft widerspricht es aber nach Meinung des Herausgebers des Ratgebers nicht, dass es daneben andere Formen der Unternehmens- führung gibt, wie die genossenschaftliche, die kleinbäuerliche, der Nießbrauch, die Ver- mietung und Verpachtung und eben die Arbeit auf eigene Rechnung (3).

Politische Aufwertung der Arbeit mit privaten Produktionsmitteln

Die Möglichkeit des Wirtschaftens mit eigenen Produktionsmitteln gibt es schon lange, sie ist auf dem sechsten Parteitag 2012 in den ökonomischen und sozialen politischen Leitlinien aufgewertet worden (4). Im Rahmen der Massenentlassungen von Hundert- tausenden von unproduktiven Arbeitern im öffentlichen Sektor musste eine Alternative an Ersatz-Arbeitsplätzen in anderen Sektoren der Wirtschaft gefunden werden, wollte man nicht das Gros (vor allem Jugendliche, die im öffentlichen Sektor keine Arbeit mehr fanden) in die Hoffnungslosigkeit der Arbeitslosigkeit entlassen.

Ein Vergleich mit der Politik der Bundesregierung, die Selbständigkeit über Unternehm- ens-Neugründungen zu fördern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, drängt sich auf. Deren Maßnahmen mit Ich-AGs, Gründungsdarlehen und Betreuung über Arbeitsagenturen müssen als gescheitert angesehen werden. Ob dem kubanischen Weg das gleiche Schicksal droht, muss abgewartet werden.

Die Autorin des Buches, 'Librada Taylor', geht nicht auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, sondern versteht ihr Buch als einen betriebswirtschaftlichen Ratgeber in einem für die meisten Kubaner neuen Betätigungsfeld, dem der unternehmerischen Eigenverantwortung. Dies betrifft die autonome Planung und Gründung eines Unternehmens, die Marktanalyse, der Einsatz eigener Produktionsmittel und Angestellter, das Rechnungswesen, die Finanzkontrolle, usw. Wie der ausgiebigen Literatur zu entnehmen ist, greift die Professorin der Business-Administration auf Lehrbücher aus der kapitalistischen Welt zurück. Als Leitfaden durch das Buch führt sie eine fiktive Freundin ein, die Unternehmerin werden will, und der sie mit Ratschlägen zur Seite steht.

Die Arbeit auf eigene Rechnung mit Schwerpunkt Kleingewerbetreibende

In den kapitalistischen Staaten ist diese „Öffnung zum Markt“ nach dem sechsten Parteitag als Abkehr vom bisherigen sozialistischen Modell missdeutet worden. Einer solchen Interpretation liegt dem Ratgeber fern. Er ist auf Ratschläge für kleinere Unternehmen ausgelegt, die das ABC des Marktes verstehen sollen. Allerdings deutet die Autorin an, dass in Zukunft auch größere Unternehmen als „cuenta-propista“ in Frage kommen könnten, zum Beispiel in der juristischen Form von Genossenschaften.

Der Staat grenzt die operativen Felder ein. Nicht nur aus ideologischen Gründen sondern auch aus Eigeninteressen behält er die profitablen Tätigkeiten der Staatsunternehmen im Tourismus, in der Leichtindustrie, der Tabakindustrie, in Teilen des Transportwesens und der Mineralindustrie für sich, weil er aus deren Gewinnen die Haupteinnahmequelle für die Staatsfinanzen schöpft. Im Vordergrund steht aber, dass er nicht die Kontrolle des sozialistischen Wirtschaftens aus der Hand geben will. Dabei geht er zunehmend dazu über, im öffentlichen Sektor nicht profitable Unternehmen, die sich als „sanierungsresistent“ erwiesen haben, zu fusionieren oder zu schließen. Für die absehbare Zukunft bleibt ein ständiger Druck an freigesetzten Kräften auf dem Arbeitsmarkt, der nach einer Lösung drängt, eventuell über eine Erweiterung der Arbeit auf eigene Rechnung.

Arbeit auf eigene Rechnung – Eingangs-Tor zum kapitalistischen Denken?

Die gesellschaftspolitische Relevanz der 'Cuenta-propista' liegt nicht darin, dass die Privatunternehmen aus ihren staatlich zugewiesenen Nischen ausbrechen und die staatlichen Unternehmen in die Ecke drängen, sondern dass Hunderttausende sich in die Materie kapitalistischer Unternehmensführung einarbeiten und ihre Logik adaptieren. So ist es im Ratgeber auch angelegt. An diesem Punkt stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Implikationen. Einprägsamer als bei Lehrveranstaltungen über die Werke von Marx und Lenin lernt der Jungunternehmer (bei der Autorin die Unternehmerin) praxisnah, intensiv und umfassend die Auseinandersetzung mit der realen Welt der Ökonomie kennen, wie man sich in ihr mit kapitalistischen Mitteln behaupten kann oder bankrott geht.

Insbesondere für die Jugend kann ein solcher Weg in die Selbständigkeit attraktiv sein. Der Unternehmer muss sich im Rahmen seiner eigenen Tätigkeit nicht Hierarchien der Berufswelt unterordnen, er muss allerdings die Rahmenbedingungen akzeptieren, innerhalb dessen „sein“ Unternehmen operiert. Das Individuum ist „frei“ von persönlicher Bevormundung, kann sich aber in ein demokratisches Kollektiv einer Genossenschaft freiwillig eingliedern.

Der Unternehmer kann die ökonomischen Regeln selbst aktiv anwenden und sie nicht nur passiv akzeptieren. Er kann sich seine Mitarbeiter selber auswählen, wobei in der bloßen Selektion schon ein Stück Ausbeutung steckt (dazu später). Er wechselt vom Arbeitnehmer zum Unternehmer, vom Konsumenten zum Produzenten, er hantiert mit „seinen“ Produktionsmitteln in Eigenverantwortung. Er lernt den sparsamen, verantwortungsbewussten und rationalen Umgang mit „seinen“ Ressourcen. Durch seine unternehmerischen Entscheidungen steckt er ein „Stück Zukunft“ für sich selber ab.

Optimierung kapitalistischer Produktionsweisen im sozialistischen Rahmen?

Wie im Einzelnen dargestellt wird, muss der prak- tizierte Kapitalismus in einem sozialistischen Gesamtrahmen nicht nur als Bedrohung der reinen Lehre des Sozialismus verstanden werden. Ich-Kräfte, die in einer staatlichen Bürokratie schlummern, wie Eigeninitiative, eigenes Denken und Verantwortung, Selbstachtung und Selbstbehauptung – ethische Werte, die Raúl Castro in seiner Rede auf dem achten Kongress der Volksversammlung „schmerzlich“ in Teilen des Volkes vermisst - können geweckt werden und dem Sozialismus zu seiner „Perfektionierung“ dienen, im Sinn einer dynamisierenden Entbürokratisierung und Entbürokratisierung der Gesellschaft. Leicht wird diese optimistische Variante nicht zu gehen sein, wenn sich der bürokratische Apparat nicht zur gleichen Zeit reformiert, und der staatliche Unternehmenssektor sich nicht demokratisiert.

In der heutigen sozialistischen Welt fehlt ein global gültiges Gesellschafts-Modell, das die Einführung der kapitalistischen Praxis in sozialistische Staaten wie China und Vietnam theoretisch untermauert, die schon vor der kommunistischen Machtübernahme „traditionell geschäftstüchtige und marktorientierte Handelsnationen“ waren. Die sozialistischen Staaten Lateinamerikas gehen den umgekehrten Weg aus der kapitalistischen in mehr sozialistische Formen des Wirtschaftens.

Für die Politwissenschaft – und nicht nur für Marxisten – stellt sich die Frage, ob unter einem - in der alten Definition „sozialistischen“ - Dach dezentrale, kapitalistische Produktionsweisen wirken können, oder ob es sich nicht um ein neues gesellschaftspolitische Gebilde handelt, das auf einen Paradigmenwechsel hinaus läuft, dessen neue polit-ökonomische Konfiguration mit der alten Begrifflichkeit von Sozialismus nicht mehr fassbar ist.

Profit des Unternehmers (Ausbeutung) – fundamentaler Widerspruch im Sozialismus?

An Hand von Kuba kann man sich diesem Thema nähern, wenn man fragt, ob der Profit, den der kubanische Unternehmer erzielt, nicht unter bestimmten Umständen, die an Hand der Kriterien von Karl Marx noch näher zu benennen sind, Ausbeutung bedeutet, und deshalb im fundamentalen Widerspruch zum Sozialismus steht.

Nicht ohne Grund führt die Autorin in den Titel ihres Buches an prominenter Stelle das Wort „Ich“ ein, es geht bei der Arbeit auf eigene Rechnung um „mich“, den Unternehmer, dem der Profit zufällt nach der Entlohnung der Mitarbeiter, falls es sich um größere Unternehmen handelt. Es geht nicht um Solidarität. Für El Che – und nicht nur für ihn – liefen marktwirtschaftliche Strukturen auf der Basis von privaten Produktionsmitteln auf Ausbeutung hinaus und widersprächen einer solidarischen Gesellschaft. Die pointierte Hervorhebung der eigenen Person gegen das Kollektiv im Konkurrenzkampf um den Kunden wäre eine Provokation.

Für El Che ist Arbeit gesellschaftliche Arbeit, die Leistung des Einzelnen ruht auf der Arbeit anderer. Aus dieser Sicht kritisierte er die Übernahme der kapitalistischen Wertlehre in die sozialistische Wirtschaft der Sowjetunion (und Kuba). Die erbrachte (Mehr-)Leistung individuell mit einer Prämie zu entlohnen, kann nur erfolgen, wenn der gesellschaftliche Beitrag zur Leistung berücksichtigt worden ist. Völlig abwegig wäre für ihn gewesen, dass innerhalb des sozialistischen Systems der Eigner von Produktionsmitteln Profit aus seinen Mitarbeitern heraus zuschlägt.

Für die kubanische Partei und Regierung ist mit dem Triumph der Revolution ein für alle Mal der Sozialismus in die Verfassung „auf ewig“ hineingeschrieben worden, womit man zum Ausdruck bringen will, dass die Machtfrage geklärt ist. Ein Weg zurück zum Kapitalismus findet nicht statt. Aus dieser Position kann der Staat praktische Wege gehen, die - vom Staat strikt kontrolliert und auf die heutigen und zukünftigen Gegebenheiten abgestellt - eine höhere Produktivität erlauben und den Sozialismus insgesamt stärken. Wir haben diese Linie an anderer Stelle die „etatistische Denkströmung“ genannt (5).

Als Konsequenz dieser Position ist der Anteil zwischen dem öffentlichen und privaten Produzieren nicht durch eine starre Linie gezogen. Der Anteil des privaten Wirtschaftens könnte zum Beispiel von momentan vielleicht 10 auf 49 Prozent angehoben werden, so wie es in den „gemischten“ Großunternehmen zwischen kubanischen und ausländischen Eignern gegeben ist, ohne dass nach dieser Denkweise der Charakter der sozialistischen Revolution gefährdet wäre. Der Anteil des privaten Sektors kann aber nicht beliebig erhöht werden. Bei jeder Ausweitung könnte man sich jener imaginären Linie annähern, wo ein möglicher Bewusstseinswandel in breiteren Schichten der Bevölkerung in die kapitalistische Richtung gestärkt wird, die die sozialistischen Werte unterwandert. 

Kleine Unternehmen – Start-up für Kuba?

Die bisherige Resistenz der deutschen Wirtschaft gegen die Weltkrise wird nicht nur auf Großkonzerne sondern auf die tausend kleineren Unternehmen (Mittelstand) zurückgeführt, die in ihren Marktsegmenten Weltmarktführerschaft geltend machen. Die Erfolgstory der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert wird dem innovativen Handwerk zugesprochen, aus dem Weltkonzerne erwuchsen. In Deutschland war es schon immer en vogue, „Arbeitsplätze selber zu schaffen, zu finanzieren und zu behalten“ (6). Die heute weltweit führenden digitalen Konzerne wie Microsoft, Google usw. kamen aus der Innovations-Schmiede des Silicon-Valley. Die „Zeit“ (Campus 3/2013) gibt in ihrer Berufsbilder-Ausgabe Ratschläge, „wann es sich lohnt, sein eigener Chef zu sein“. Dass das kleine Kuba sich ähnliche Impulse erhoffen kann, trifft vielleicht auf die menschlichen Ressourcen zu, muss aber den Unternehmen selber abgesprochen werden unter den bisherigen restriktiven Bedingungen, die vom Staat und der Gesellschaft ausgehen. Die Verbannung der Ich-AGs in Markt-Nischen paart sich mit der relativen Marktabgeschlossenheit der Karibik-Insel, die die USA-Blockade Kuba auferlegt hat.

Hinzu kommen institutionelle Hemmnisse. Dass einige erfolgreiche Entwickler der Pharmazeutik-Industrie in Havanna durch Outsourcen sich selbständig machen könnten, um ihre Medikamente unter einer eigenen Marke zu vertreiben, ist heute undenkbar. Andererseits kann das Zustandekommen des Ratgebers von Librada Taylor selber als eine Form neugewonnener Selbständigkeit verstanden werden. Sie hat eine Idee, sie findet Mitarbeiter, sie konzipiert das Manuskript und findet zuletzt auch ihren Verleger, den Chef des Handelskonzern Innomax, der sie promotet – alles ohne Staat, was noch vor Jahren undenkbar wäre. Und sie denkt an eine verbesserte Neuauflage. Der Bedarf wäre vorhanden. 

Risikobereitschaft contra paternalistisches Denken

Gleich zu Beginn ihres Ratgebers gießt die Autorin Essig in den süßen Wein der 'Cuenta-propista'. Weltweit scheitert die Mehrheit der Neugründungen. Nur zehn Prozent der neuen Projekte überleben zehn Jahre, rechnet sie ihren LeserInnen vor. Eine schlechte Ausgangslage für den Neugründer. Aber dieser sieht sich vor folgender Entscheidung gestellt: Wer nicht das Wagnis des „Start up“ beginnt, läuft in die trostlose Perspektive der Arbeitslosigkeit oder der periodischen Hilfstätigkeiten hinein, in ein Durchwursteln und Nichtstun im „Schoß“ der Familie und auf der Basis der kargen Lebensmittelkarten, deren Weiterbestand die Regierung zunehmend in Frage stellt.

Oder er nimmt als Hochqualifizierte das Angebot des Staates an, gemäß seiner Ausbildung zu einem Lohn von 20 Euro monatlich zu arbeiten, wo ihm als Unternehmer ein weitaus höherer Ertrag winken kann. Auch ohne Arbeit auf eigene Rechnung besteht oft ein krasses Lohngefälle zwischen akademischer Arbeit, die der Staat anbietet und devisennahen Jobs, zum Beispiel in der Tourismusbranche. Eine halbe Million Kubaner haben daher das Wagnis auf sich genommen, einzusteigen und Erfahrungen zu sammeln. Man kann scheitern. Aber was soll´s. Man nimmt das Wagnis, das unter solchen Umständen gar keines ist, erneut auf sich. Und falls es gut läuft, um so besser. Der Erfolg hängt entscheidend von den Vorbereitungen des Projekts ab.

Die Autorin verwendet daher etliche Seiten, um ihrer fiktiven Freundin, der Neugründerin die Produktidee, Marktanalyse und Strategien, Konkurrenten, Produktionsabläufen, Finanzkontrolle näher zu bringen und bemüht sich dabei, „auf dem Teppich der kubanischen Realitäten zu bleiben“. Phantasiereichen Vorstellungen über marktbrechende innovative Erfindungen, wie sie der Guru auf dem Feld des innovativen Managements, Peter Drucker, propagierte, erteilt sie eine Absage.

In Kuba ist viel die Rede davon, die Mentalität des Paternalismus zu ändern, das heißt, vom Staat alles, von sich selber wenig zu erwarten. Dieser Attentismus ist bei der Beseitigung der Folgen den verheerenden Hurrikans Sandy an den Häusern Ostkubas im Oktober 2012 zu beobachten. Statt die notwendigen Reparationen mit Hilfe eines Staatskredits in die Hand zu nehmen, warten einige bis heute unter kaputten Dächern, bis der Staat seine helfende Hand ausstreckt. (Zum Aufbau einer Volksversicherung für Naturkatastrophen wie in der DDR fehlt dem Staat das Geld). Allerdings darf bei dieser Kritik nicht übersehen werden, dass der Staat das Monopol an preiswerten Materialien wie Dachplatten besitzt, diese knapp und daher rationiert sind, und der Kauf auf dem „freien Markt“ wesentlich teurer kommt.

Institutionelle Regulationen und Restriktionen der Arbeit auf eigene Rechnung

Die Autorin Librada Taylor beschreibt für ihre interessierten Leser den staatlich vorgegebenen Rahmen, innerhalb dessen die kleinkapitalistische Tätigkeit ablaufen kann. Sie zählt allein zehn Institutionen auf, die für die Regulierung der Arbeit zuständig sein können, von der Genehmigungsstelle der gemeindlichen Leitung der Arbeit (direcciones de trabajo municipales) bis zum medizinisch-veterinären Institut der Gemeinde. Es ist die Regulierungswut (Ost)-Europas, die Kuba übernommen hat, und die Kuba in dieser Hinsicht „europäischer“ macht als andere amerikanische Staaten, Brasilien und die USA mit eingeschlossen, die es mit Regulierungen lockerer handhaben.

Fallweise können diese Institute den privaten Business-Plänen in die Parade fahren, wie die Einrichtungen der Hygiene, der Epidemiologie und der Mikrobiologie, die im Sommer 2013 schlagartig in Ostkuba in einigen Gemeinden die privaten Geschäfte von der Straße verbannten, nachdem der Verdacht einer Epidemie entstanden war, die der mangelnden Hygiene der privaten Unternehmen angelastet wurde. Die Autorin warnt die angehenden Unternehmer vor den Unsicherheiten, die von der Administration ausgehen könnte.

Die traditionellen Tätigkeitsfelder der kleinkapitalistischen Tätigkeit waren bisher auf Straßenstände oder ambulanten Händler mit selbstgebastelten Haushaltsgegenständen, Feuerzeugbenzinabfüller, Regenschirm- und Fahrradreparaturen und ähnliche Tätigkeiten des häuslichen Bedarfs beschränkt, die keine staatlichen Zulieferer bedurften und mit Peso national bezahlt wurden. Mit der „Öffnung“ des freien Marktes kommen Friseure, Maniküre, Gastronomie wie Pizzabäcker oder Restaurants sowie Taxis hinzu. An Bedeutung zugenommen haben die landwirtschaftlichen Direktvermarker, Metzger, Obsthändler sowie „fliegende Verkäufer“ von Schuhen und Textilien zumeist chinesischer Produktion. Mit Ausnahme von Havanna und der Provinzhauptstädte macht das Ganze bisher den Eindruck einer bescheidenen wenn nicht ärmlichen Lebensführung, wie es bei einem Durchschnittseinkommen von 15 Euro monatlich nicht anders sein kann.

Harmonie und Dissonanz bei Familienunternehmen

Mehrere Seiten widmet die Autorin den Unternehmen, in denen der Chef oder Chefin mit Familienmitgliedern arbeitet. Angesichts der Familienorientiertheit, die der lateinamerikanischen Gesellschaft zu Eigen ist, kann das nicht verwundern, wobei es sich oft um Großfamilienverbände handelt, in denen Onkel, Tanten, Kusinen usw. mit eingebunden sind. Auch in hoch industrialisierten Gesellschaften wie Deutschland ist das Thema aktuell, wenn Familienmitglieder als Steuerhinterzieher, Ehefrauen als informelle Beraterinnen für Großmanager dienen, Witwen als Erbinnen von riesigen Kapitalien wie Susanne Katten, geborene Quandt, mit Goebbels verwandt, zu den Knoten des großkapitalistischen Netzwerks Deutschlands zählen, und uneinige Großfamilien wie Piech bei Porsche als Risikofaktoren für Konzerne wirken.

Die wohlgemeinten Ratschläge von Taylor geben manchmal ungewollt Einsicht in die informelle, reale Welt Lateinamerikas. Die Eheleute sollen sich nicht vor den Angestellten streiten, das Persönliche ist vom Beruflichen zu trennen, die Arbeitsstunden sind zwischen Familienmitglieder vertraglich zu regeln, dabei sind die Pausen zu respektieren. Falls solche und andere Regeln nicht eingehalten werden, könnte ein negatives Klima sich in Demotivation, niedrige Produktivität, Unstimmigkeiten niederschlagen. Falls solches Negative sich in die alltägliche Alltagsroutine einnistet, können Beziehungen zerstört werden. Dahinter steckt ein ernster Konfliktstoff aus unterschiedlichen kulturellen Zuständen.

Die Familienstrukturen Lateinamerikas sind auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe aufgebaut, als Schutz des Einzelnen vor der allgegenwärtiger Armut, der sozialen Unsicherheiten, der fehlenden oder geringen sozialen Unterstützung durch den Staat. Es sind – kulturell gesehen - vorindustrielle Zustände. Dies trifft, wenn auch im geringeren Ausmaß, auf Kuba zu, weil hier der Staat einen Teil der Sicherungsfunktionen übernommen hatte, diese aber seit dem Untergang der Sowjetunion nicht mehr im alten Umfang tragen kann. Die Renten zum Beispiel fallen so niedrig aus, dass die Alten von der Unterstützung der Jungen abhängen, falls sie nicht Hauseigentümer sind.

Postmoderne contra traditionelle Lebensmuster

Der Jungunternehmer, der mit seinem Wagemut, mit seinen Initiativen, kurz durch seinen individuellen Einsatz mit alten gesellschaftlichen Bewusstseinslagen des „öffentlichen Dienstes“ bricht, kommt zusätzlich in den Konflikt mit den tradierten Familienstrukturen. Warum soll der Unternehmer seinen Profit mit „Müßiggängern“ in der Familie teilen – unterstellt, sie seien nicht bei ihm unter klaren arbeitsrechtlichen Bedingungen beschäftigt – wenn die anderen auch nicht das Risiko des Verlustes mit ihm teilen?

Oft wird dieser Konflikt nicht so heiß gegessen, wie er hier aufgekocht worden ist. Zur Entschärfung des Konflikts schlägt die Autorin folgende praktische Lösung vor: Hat der Vater in seinem Haus ein nichtbenötigtes Zimmer zur Vorderfront, könnte er dieses mit einigen Umbauten dem Sohn/der Tochter als Arbeits- und Verkaufsstätte zur Verfügung stellen und mit der Pachtsumme des Sohnes seine spärliche Rente aufbessern.

Auch an dieser Stelle sei nachgefragt, ob nicht - die Möglichkeiten des Scheiterns mit einkalkuliert - die dynamische Attraktivität des kapitalistischen Unternehmertums ein klarer Beweis für die Überlegenheit dieses ökonomischen Modells gegenüber dem sozialistischen sei. Die Sichtweise ändert sich aber, wenn die Sichtweite aus der Mikro- auf die Makroebene gehoben wird. Aus philosophischer Sicht würde eine Gesellschaft - aus lauter Mikroorganismen bestehend - ein interessantes Ideenmodell sein, dessen Für und Wider bedacht werden kann, nicht nur aus dem Blickwinkel Michail Bakunins und dem Anarchismus. Mikrokredite in Indien, der quirlige Markt in einem Dorf Indochinas, der Mythos der Start-up-Unternehmen im Westen, die Erfolgsgeschichten kleiner Familienunternehmen sind chic. Aber in dieser idealisierten Weise läuft Geschichte nicht ab, wie die Systemtheorie oder der historischen Materialismus dargestellt haben. Lauter Ich-AGs nebeneinander, lauter Ich-Zentren über die Konkurrenz in herzlicher Hassliebe miteinander verbunden, ein einziger Hecht würde der Idylle im Karpfenteich ein Ende bereiten. Ein solches System wäre nicht in sich stabil.

Aber abgesehen von den historischen Abläufen der modernen Gesellschaft zur kostengünstigen Massenproduktion des Fordismus, zu globalen Giga-Verflechtungen, die Megakomplexe mit einer hohen Mobilität erzeugen, liegt der Skandal der Ausbeutung für Marxisten nicht bei kapitalistischen Kleinproduzenten sondern in der abhängigen Arbeit einer kapitalistisch gestalteten Arbeitsteiligkeit, aus der heraus - basierend auf dem Privateigentum - riesige Kapitalien akkumulieren, den Staat okkupieren und einen hegemonialen Imperialismus entfalten. So lange die Kleinkapitalisten sich mit sich (oder zusammen mit ihren Ehefrauen oder als genossenschaftliche Einheit) beschäftigen, kann man höchstens von der Gefahr der Selbstausbeutung sprechen. Ihre „Unschuld“ verlieren sie mit der Anstellung von anderen „Arbeitnehmern“, die sie nach der Meinung der Autorin nach dem Profil ihrer Firma „selektieren“ sollen, wollen sie ihr Unternehmensziel erreichen.

Die Bedeutung des Kunden

Ein Viertel ihres Ratgebers hat die Autorin der Bedeutung des Kunden gewidmet. Ihre Ratschläge sind für den westlichen Leser Selbstverständlichkeiten, wenn nicht Banalitäten. Sie erstrecken sich über einen guten Service, Qualität des Produkts, Psychologie des Kunden, Kundenpflege, um eine dauerhafte Kundentreue zu gewinne, usw. Offensichtlich erachtet sie das besondere Eingehen auf Kundenwünsche als notwendig, weil in Teilen der alltäglichen Geschäftstätigkeit in Kuba der Kunde nicht König ist, auch wenn man in den staatlichen Geschäften Regeln an die Wände geklebt hat, wie die Kunden ein Anrecht auf Beschwerden haben und Mängel einklagen können.

Was hilft Kundenorientierung, wenn die Waren knapp sind? Mangelerscheinungen treten in verschiedenen Waren des öffentlichen Sektors zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Regionen wie auf dem flachen Land in Ostkuba auf. Da die Preise landesweit in den meisten Produktfeldern durch das Ministerium für Preise fixiert sind, die konkrete Angebot-Nachfrage-Situation also nicht abbilden können, fehlt den staatlichen Produzenten und den Distributoren im Großhandel oft die rechtzeitige Orientierung über schwankende Kundenwünsche und fehlende Angebote. Die Konsequenz ist der „schwarze Markt“, die informelle und oft kriminelle Form des kapitalistischen Handels.

Skrupellose Professionelle kaufen oder „organisieren“ knappe Waren auf und verkaufen sie dort, wo Mangel herrscht. Eine besondere üble Form ist der Schwarzmarkt-Handel mit knappen Medikamenten, wie die regionale Parteizeitung AHORA in Holguin am 2O. Juli 2013 berichtet (7). Händler besorgen sich Medikamente zu Herz- und Kreislaufkrankheiten, die sie vor den Toren der Krankenhäuser zu erhöhten Preisen anbieten.

Sie bedienen sich dabei gefälschter oder über andere illegale Kanäle beschaffenen Rezepte, manchmal in Zusammenarbeit mit Ärzten und Krankenschwestern. Solche Fälle von schwerer Gruppen-Kriminalität treten – obwohl schon lange bekannt – immer wieder auf. Neben den Mängeln in der staatlichen Preisgestaltung und im Vertrieb lässt die Arbeitsmoral in den staatlichen Unternehmen zu wünschen übrig, ein Aspekt der weitreichenden Verletzungen an sozialer Moral, wie Raúl Castro auf dem achten Kongress der Nationalversammlung in seiner Intervention festgestellt hat, und das die interne Diskussion im Sommer 2013 in Kuba beherrscht.

Der Unternehmer auf eigene Rechnung operiert im Wettbewerb mit anderen Konkurrenten über den Preis, die Qualität und das Kundenwerben auf einem relativ freien Markt. Er weiß, dass sein ökonomisches Überleben von dem Gewinn an Kunden abhängt. Wie er das am besten machen kann, darin gibt ihm die Autorin Taylor einige Tipps.

Preise – Kosten – Profite – Bestandteile der kapitalistischen Kalkulation

Die Autorin bedient sich weitgehend der Stückkosten-Kalkulation, um die Innereien kapitalistischer Rechnungslegung für Kleinunternehmen offen zu legen, wie sie auch im Kapitalismus üblich sind. Als Doktorin der betrieblichen Rechnungslegung für Staatsbetriebe kennt sie sich in der Materie aus. Sie überträgt die Grundlagen der Kalkulations- und Bilanz-Richtlinien für staatliche Unternehmen, die ähnlich den kapitalistischen sind, in vereinfachter Form auf private.

Diese Ähnlichkeit mit der kapitalistischen Rechnungslegung ist nicht verwunderlich, da die Sowjetunion (und in ihrem Gefolge die DDR und Kuba) das kapitalistische Wertgesetz weitgehend auf ihre sozialistische Rechnungslegung übertrugen, Da die Autorin sich einer betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise bedient, erfolgt keine Einbettung der betrieblichen in die volkswirtschaftliche Ebene, also – auf Kuba bezogen – in die kubanische Form der Planifikation. Wo dieses erforderlich ist, wird dem hier Rechnung getragen.

Sie bedient sich der einfachen Gleichung: Preis des Produkts/Dienstleistung = fixe Kosten + variable Kosten + sonstige Ausgaben + Profit (8). Die fixen Kosten sind für die Produktion erforderlich, aber dem einzelnen Produkt nicht direkt zurechenbar, wie Licht Telefon, eventuell die Miete des Verkaufsraumes, usw. Die variablen sind dem Produkt direkt zurechenbar, wie Löhne ('salarios'), falls sie auf Arbeitsstunden bezogen werden. In einer anderen Rechnung aus Tabellenform, die hier nicht dargestellt wird, stellt sie den Umsatz als Produktmenge mal Preis in Bezug zu den Kosten und deren Abhängigkeit zum Umsatz dar, was sie als 'beneficio', oder 'utilidad' (Nutzen, Vorteil) bezeichnet, also den Stückkostenvorteil bei höherem Umsatz. Werden die fixen Kosten auf einen höheren Umsatz verteilt, fallen sie je Umsatzeinheit niedriger aus.

Faktoren der Profitmaximierung

Die Arbeit auf eigene Rechnung ist auf Profitmaximierung ausgelegt. Inwieweit der Unternehmer dem voll und ganz Rechnung trägt, oder sich schon damit zufrieden gibt, wenigstens den Durchschnittslohn zu erwirtschaften, ist ihm persönlich überlassen. Allerdings legt der Staat den Unternehmern Steuern auf, die pünktlich aus dem erwirtschafteten Erlös zu bezahlen sind, ansonsten wird der Betrieb geschlossen.

Die Autorin geht nur am Rande auf das Thema ein und lässt einiges unbeantwortet. Wir sind daher bei der Maximierung der Profitkalkulation manchmal auf eigene Ansätze angewiesen, die je nach Geschäftstätigkeit unterschiedlich ausfallen werden, je nachdem ob es sich um ein privates Taxi-Geschäft oder um ein privates Restaurant handelt. Welches sind die beeinflussbaren und welches sind die vorgegebenen Faktoren, nachdem sich der Entrepreneur (entreprenador) für eine bestimmte Tätigkeit entschieden hat? Im Bereich der fixen Kosten sind Strom, Wasser usw. vorgegeben, wobei die monatlichen Stromkosten oft einen Euro nicht überschreiten. Wichtig für die Gesamtkalkulation ist – wie schon angesprochen wurde – die räumliche Unterbringung des Geschäftes.

Die variablen Kosten werden durch die Vorlieferanten wesentlich bestimmt. Die Preise der staatlichen Lieferanten sind landesweit durch das Ministerium für Preise vorgegeben. Die Preise im Transportwesen können in Städten und Provinzen variieren. Und die Materialien oder Treibstoffe sind fast alle staatlich, ob es sich um Zucker, Reis, Mehl, Benzin oder Brot (für die Gastronomie) handelt. Auf legalem Wege ist in diesem Bereich die Disponibilität nicht groß.

Bestimmung des Lohnes im Rahmen der Planifikation

Eine gesonderte Behandlung verdient der Lohn beim Einsatz von Beschäftigten. Wo der Profit – in gewissen Grenzen - frei kalkulierbar ist, muss das prinzipiell auch für die Höhe des Lohnes gelten im Gegensatz zum Staatsunternehmen, das im Rahmen der staatlichen Vorgaben (Planifikation) arbeitet. Betrachten wir zuerst die Lohnfindung der Staatsunternehmen. Wie wird der Lohn im Rahmen der Planifikation auf gesamtwirtschaftlicher Ebene bestimmt? Wir setzen die volkswirtschaftliche Lohnsumme + Renten (L) der Einfachheit halber mit dem Konsum (C) gleich. Bei dem niedrigen Lohn ist kaum mit Sparen zu rechnen.

Das Volkseinkommen (Y) wird mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gleichgesetzt. Der Staat muss über die Planifikation das Volkseinkommen mit der Lohnsumme und den Investitionen (I) abstimmen, will er nicht inflationäre Bewegungen auslösen. Die (tautologische) Gleichung für diese Beziehung der Verwendung des Volkseinkommens lautet: Y (BIP) = C (L) + I. Die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme L muss auf den durchschnittlichen Lohn je Arbeiter herunter gerechnet werden - mit allen Abweichungen nach oben und unten und einschließlich der individualisierten Prämien ein schwieriges Geschäft, das Anlass für viel Ärger auf allen Seiten mit sich bringt.

Die Gewerkschaften können die Höhe des Lohnes in einem solchen System nicht bestimmen (Es fragt sich, ob im kapitalistischen System die Gewerkschaften die Lohnsumme bestimmen, was ich in meiner Doktorarbeit über Gewerkschaften im Kapitalismus verneint habe (amazon search: Gerd Elvers). Wenn der kubanische Staat einen Durchschnittslohn von 20 Euro (500 Pesos naciónal) im Monat zahlt, tut er dies nicht aus eigenem Gusto, sondern weil die ökonomischen Eckdaten (niedrige Arbeitsproduktivität, US-Blockade, Untergang Ostblock) nicht mehr hergeben.

Absenkung des Lohnes 1990 Opfer des Volkes zur Rettung des Sozialismus

Je höher das Bruttoinlandsprodukt desto höher kann die Lohnsumme ausfallen, in Konkurrenz mit den Investitionen und umgekehrt. Das Wegbrechen des Ostblocks 1990 schlug voll auf die Lohnsumme und Investitionen durch. Durch eine immense Anstrengung der Partei und Konsumverzicht des Volkes durch ein Absenken des Lohnes gelang es, Ressourcen für Investitionen für den Tourismus, die Mineralindustrie, der Landwirtschaft außerhalb des Zuckerrohrs und anderswo Mittel für Investitionen freizumachen und die noch vorhandenen Investitionsmittel umzulenken, um den Bankrott zu vermeiden und Zukunftsfelder zu gewinnen.

Der Parteivorsitzende von Holguin berichtet am 26. Juli 2013, dass in seiner Provinz der Durchschnittslohn 482 Pesos beträgt. Die Relation zwischen Lohnsteigerung und Produktivitätsentwicklung beläuft sich in den ersten acht Monaten 2013 in seiner Provinz auf eine Quote von 0.99. Beim Wert 1 entspräche Lohnentwicklung der Produktivitätsentwicklung, aus der eine Erhöhung des Lohnes „gestützt“ werden könnte.

Grenzertragskostenkalkulation der Arbeit auf eigene Rechnung

Indirekt geht der Parteichef von der Möglichkeit einer produktivitätsorientierten Lohnerhöhung aus, so wie sie auch langfristig die Praxis der Lohnfindung in Deutschland war, bevor in den letzten 15 Jahren die Real-Löhne sich unterhalb der Produktivität entwickelten, um mit Unterstützung der Gewerkschaften der deutschen Exportindustrie Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Im Fall Kuba ergibt sich bei einer günstig gerechneten 3 - 4 Prozent Produktivitätssteigerung jährlich ein Spielraum von entsprechenden Lohnerhöhungen - von einer Basis von 20 Euro pro Monat aus.

Im Fall der Arbeit auf eigene Rechnung kann unterstellt werden, dass der Unternehmer das leistet, was der Staat im Großen tut: eine Art Grenzertragskostenkalkulation: Er wird einen (zusätzlichen) Arbeitnehmer dann einstellen, wenn er sich verspricht, dass dessen Mehrprodukt seinen Profit (Ertrag) unter Einrechnung der zusätzlichen Lohnkosten erhöht. Er wird einen Arbeitnehmer entlassen – unter Beachtung der Kündigungsfristen - wenn dessen weiterer Einsatz auf den zu erwartenden Profit drückt. Und er wird dem Arbeiter den Lohn anbieten (und vielleicht etwas mehr), der auf dem staatlich regulierten Arbeitsmarkt üblich ist. 

Flexible Preisgestaltung – eine neue Innovationsform oder Inflationsgefahr?

Trotz vielfältiger Regulierungen ist die Freiheit des Unternehmers nicht entscheidend eingeschränkt. Das gilt vor allem für die freie Preisbildung. Seine Preise für sein Produkt oder Dienstleistung kann er selber bestimmen, soweit der Kunde sie akzeptiert, was eine Frage der Konkurrenz, der Qualität, der Kundenfreundlichkeit, der günstigen Lage an Ausfallstraßen sind, wo viele Verkehrsmittel aufeinander treffen. Er kann als Pizzabäcker auf dem belebten Cocal-Platz in Mayari für ein Glas Refresco zwei Pesos verlangen, wo die staatliche Bodega 200 Meter weiter nur einen Peso verlangen muss, weil dies die Regierung so festgelegt hat. Der Drink wirkt als Komplementärprodukt zum Volksnahrungsmittel Pizza.

In einer Ökonomie, die mit festen Preisen arbeitet (die langfristigen Preissteigerungen nicht eingerechnet), braucht es eine Revolution der Geschäftsethik, sich auf die neue Situation einzustellen und die unterschiedlichen Nachfrage-Angebot-Situationen flexibel für sich zu nutzen. So regt sich die Autorin über Obsthändler auf, die abends an ihren Morgenpreisen festhalten, obwohl die Ware zu verfaulen beginnt. Doch von der freien Preiskalkulation können auch Inflationsgefahren ausgehen.

Der Katze die Schelle umhängen und das Publikum wundert sich

Mit dieser Überschrift versucht die Redakteurin Ania Fernández in der Parteizeitung 'AHORA!' in der Provinzhauptstadt Holguin das Tohuwabohu im Transportgewerbe zu erfassen, das sich ergeben kann, wenn staatliche und private Transportunternehmen miteinander konkurrieren (9). Auch wenn der Staat darauf achtet, dass die privatwirtschaftlichen Geschäfte nicht ins Gehege mit den staatlichen geraten, kommt es zu Überschneidungen, vor allem im Transportgewerbe.

Was tummelt sich nicht alles mit staatlicher Lizenz der Transportbeförderung oder illegal auf den Straßen: Zur Personenbeförderung umgebaute große und kleinere private Lastwagen, gebrauchte staatliche Omnibusse aus Kanada und private Mikrobusse aus chinesischer Produktion, private neuere Geländewagen aus Minsk und Kiew, US-Jeeps des 2. Weltkrieges (yipis), US-Limousinen der 50iger Jahre, Ladas und Moskowitsche aus der Sowjetzeit, modernere Autos aus China, Südkorea und Frankreich, Pferdekutschen, Fahrrad-Rikschas und MZ-Motorräder, deren Hintersitze an Wagemutige für Außenbereiche der Stadt zu vermieten sind.

Das Publikum beklagt sich über die steigenden Preise der privaten Transporte und ruft nach dem Staat. Ein privater Unternehmer wehrt sich: „Erstens: Der Staat wird keine Lösung haben, im Gegenteil, er macht nur alles noch schlimmer. Zweitens: Falls sie mich verpflichten, den Preis zu senken oder dass ich nur so viele Personen transportieren darf wie erlaubt, passiert folgendes: Falls sie mich schnappen, zahle ich eine Strafe oder sie entziehen mir die Lizenz und geben sie einem anderen, der das gleiche wie ich machen wird“.

Die privaten Fuhrunternehmer auf eigene Rechnung beklagen sich über Diskriminierungen durch die staatlichen. Ihnen wird nicht erlaubt, ihre Fahrzeuge in staatlichen Werkstätten zu reparieren. Andere gibt es nicht. Die staatlichen Institutionen schützten Monopole auf einigen Strecken, indem Private die Endstationen nicht anfahren dürfen. Den Verkauf von staatlichem Treibstoff binden die Behörden an Verpflichtungen, bestimmte unattraktive Linien zu fahren.

Fuhrunternehmer beklagen sich bei der Journalistin Ania Fernández, dass eine Gruppe von Beteiligten ein „ökonomisches Monopol“ aufbaut, tatsächlich muss man von einer „Ökonomie der Kartelle“ sprechen, statt mehr Wettbewerb zugunsten des Publikums kommt es zur Kartellbildung. Die Konsequenzen sind für die Journalistin: Kein Wettbewerb über Preise, Begrenzung des möglichen Angebots, Aufteilung des Marktes und Verteilung des Kartell-Gewinnes unter den Mitgliedern. Die Nutznießer sind vor allem die privaten Unternehmer.

Die Mehrheit der Bevölkerung ruft nach dem Staat, der regulierend eingreifen soll. Steigende Preise durch die Arbeit auf eigene Rechnung betrifft nicht nur die Transporte: „Preistreiber sind auch die Verkäufer von Agrarprodukten mit hoher Nachfrage, Getreide wie Fleisch, die Preise stiegen jeden Tag in einer Spirale ohne Ende“. Diese Form der Reportage ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen, stößt auf Kritik der Betroffenen aber auch auf Zustimmung.

Die Journalistin beendet ihren Artikel mit dem begeisterten Zitat des Genossen Hendris Manuel: „Glückwunsch! Das ist die Presse, wie die Journalisten selbst und wir, das Volk, es sich wünscht. Schritt für Schritt nähert die Presse sich uns an, dann endlich sind wir, das Volk, und ihr Denken eins.“ Und fast trotzig fügt die Journalistin an: „Über Jahrhunderte hat man es gesagt, alle wissen es, die Geschichte bestätigt es: Vox populi suprema lex“. Die Stimme des Volkes ist oberstes Gesetz.

Abschreibungen nach kapitalistischen Grundsätzen

Die Autorin geht auch auf die Abschreibungen und die Aufstellung einer Bilanz ein. Diesen komplizierten Weg werden in der Regel nur die größeren Unternehmen gehen, die wie in der Gastronomie einige Beschäftigte aufweisen. Sie legt sie aber auch den kleineren nahe, um eine Rechnungskontrolle über ihren Betrieb zu bekommen. Lineare oder degressive Abschreibungen und die Aufstellung einer Bilanz erfolgen nach stofflich-kapitalistischen Grundsätzen. Sie bringt das Beispiel eines Taxifahrers, der sein Auto auf 5 Jahre Nutzungsdauer linear abschreibt und am Ende das Kapital zusammen hat für den Kauf eines neuen Autos.

Leider wurde diese Regel auf volkswirtschaftlicher Ebene nicht beachtet, den Verschleiß von fixem Kapital in Abschreibungen (Amortisation) zu erfassen und in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einzustellen. Diese Missachtung bestimmt weitgehend das Bild Kubas nach außen: Die Touristen bewundern die idyllisch-kaputten Häuser in der Altstadt von Havanna, und im Alltag des Kubaners muss sich dieser mit löchrigen Seitenstraßen und einem mangelhaften sanitären System herumschlagen.

Nach einem Aufsatz in der Zeitschrift 'TEMAS' verzichtete man nach dem Triumph der Revolution über die Miete oder (Gemeinde)-Steuern Reparaturfonds einzurichten, aus denen der Verfall hätte aufgehalten werden können. Die Regierung wollte der Bevölkerung, die durch die US-Blockade hart getroffen wurde und für die ein Rationierungssystem mit Lebensmittelkarten (libretas) eingerichtet worden war, nicht noch stärkere Lasten aufladen. Bei dem ist es auch in besseren Zeiten bis zum Untergang der Sowjetunion geblieben, und seit der darauf folgenden Wirtschaftskrise ist die Lücke zwischen den rechnerisch notwendigen verdienten Abschreibungen und den tatsächlichen Ersatzinvestitionen weiter gestiegen.

Selbst ein in der Weltwirtschaftskrise beachtliches reales Wirtschaftswachstum von zwei bis Prozent 2012 dürfte in der volkswirtschaftlichen Bilanz nicht ausreichen, diese Lücke zu schließen. Notwendige innovative Neuinvestitionen wie der neue Tiefseehafen westlich von Havanna oder die große Wasserleitung von Ost- nach Mittelkuba einerseits zu finanzieren und zugleich den enorm aufgelaufenen Renovierungsbedarf durch Ersatzinvestitionen zu kompensieren, dürfte die Wirtschaftskraft überfordern.

Bilanzen und Kredite nach kapitalistischen Grundsätzen

Für die Bilanz gilt die Formel Aktiva = Passiva + Kapital. In der „erforderlichen“ Passiva (Passivos exigibles) sind alle Finanz-Mittel und Verbindlichkeiten eingestellt, einschließlich der Löhne, die erforderlich sind, um mit ihnen die Aktiva zu finanzieren, die der Produktion dienen. „Das Kapital“ schließlich ist das, was dem Unternehmer zu Eigen ist, sein Vermögen, das zu vermehren sein ganzes Streben gilt, wie Karl Marx in „Das Kapital“ dargestellt hat.

Am Ende des Jahres kann der Unternehmer sehen, ob es sich vermehrt hat oder nicht. In der Bilanz-Planung für das nächste Jahr kann er ersehen, wo Finanzlücken existieren könnten. Das Kapital vermehrt sich, wenn die Aktiva sich gegenüber den Passiva erhöht haben, und der rechnerische Ausgleich (Bilanz) über ein Mehr an Kapital erfolgt. Mehr noch: Anhand der Bilanzgrößen und ihren Veränderungen lernt der Kleinunternehmer die operativen Zusammenhänge lernen, die zwischen Finanzierungsmittel und Investitionen bestehen.

Für die Aufnahme eines Kredits kann es wichtig sein, einen Bilanzplan der kreditgebenden Bank oder Behörde vorlegen zu können. Im Rahmen der Planifikation führt der Staat eine strikte Kreditkontrolle durch. Die kubanische Planifikation realisiert sich nach dem sechsten Parteitag durch drei Prinzipien: Erwirtschaftung einer unternehmensautonomen Ertragskraft zur Eigenfinanzierung der staatlichen Unternehmen (ansonsten droht die Schließung), Rahmenvorgaben durch Branchenministerien für die in staatlichen Unternehmen notwendigen Investitionen und Kreditvergabe an staatliche Unternehmen nach strikten Vorgaben durch den Staat. Zuerst wurden diese strengen Kredit-Prinzipien auch auf die Kleinunternehmen angewandt. Kredite wurden nur gegen Sicherheiten vergeben, die die staatlichen Banken gegen Verluste bei Kreditausfällen schützen sollten.

Diese Vorgaben wirkten sich hemmend auf die Gründung von Kleinunternehmen aus. Die wenigsten konnten zum Beispiel eine Bürgschaft ihrer Eltern vorweisen über eine Beleihung (Bürgschaft) von deren Hauses. Deshalb lockerte der Staat in den letzten Monaten die Bedingungen, unter denen Banken Kredite ausreichen konnten. In den Korb an Sicherheiten können nun Schmuck, Bürgschaften von mitarbeitenden „Gesellschaftern“ (socios) des Unternehmens oder ein überzeugendes Geschäftsmodell („Firmenwert“) hinein gelegt werden, ein dehnbarer Posten, mit dem deutsche Kapitalisten ihre Passiva frisieren, um ihre Bilanzen aufzublasen.

Finanzkontrolle der liquiden Mittel

Das Finanzministerium, das für das Eintreiben der Steuer verantwortlich ist, verlangt von den Kleinunternehmen keine Aufstellung einer Steuerbilanz, sondern begnügt sich mit einer Minimalkontrolle der Einnahmen- und Ausgaben in einem „Tages-Journal“, in dem alle Finanzbewegungen erfasst werden, die das Gewerbe betreffen. Die Steuer wird nach unterschiedlichen Tabellen, je nach Art des Unternehmens und Höhe des Erlöses errechnet. Für Librada Taylor ist diese einfache Erfassung von Finanzbewegungen von hohem Informationswert für den cuenta-propista selber und nicht nur für das Steueramt.

Obwohl das Bankensystem seit dem Untergang der Sowjetunion sich erheblich ausgeweitet und sich qualitativ verbessert hat, zählt der bargeldlose Verkehr im Alltag zur Ausnahme. Der meiste Geschäftsverkehr der Kleinunternehmer wird mit Bargeld abgewickelt, wobei zwei Währungen zu beachten sind, der Peso naciónal, der mit 25 zu 1 Peso Convertible umgetauscht wird, der wiederum in etwa dem Wert des Dollars entspricht. Diese unwirtschaftliche Parallelwährung soll nach den Plänen der Regierung beseitigt werden.

Die Autorin empfiehlt den Kleinunternehmern über einen bestimmten Zeitraum die Bewegungen der Einnahmen und Ausgaben genau zu analysieren, weil aus dem Fluss der gegenwärtigen Mittel sich wertvolle Rückschlüsse für die Zukunft erkennen lassen. Es ist wichtig zu wissen, ob für den zukünftigen Kauf von Produktionsmitteln mit genügend vorhandenen liquiden Mittel aus dem Verkauf zu rechnen ist. Das gleiche gilt für die Zahlung von Schulden oder Löhnen. Die Zahlungsunfähigkeit (Illiquidität) zieht die Schließung des Unternehmens durch die Behörden nach sich.

Noch einmal: Wiederkehr der Ausbeutung durch Kleinkapitalisten?

Von Ausbeutung kann man im Sinne von Marx nur im Zusammenhang mit abhängiger Arbeit auf der Basis von Privateigentum sprechen. Der Anteil von abhängig Beschäftigten ist in der Form der Arbeit auf eigene Rechnung relativ bescheiden. Dennoch stellt sich die prinzipielle Systemfrage, ob mit den Kleinkapitalisten die Ausbeutung wiederkehrt. In einer strengen Auslegung von Marx liegt in der Aneignung von abhängiger Arbeitskraft Ausbeutung vor, auch wenn ein arbeitsrechtlich korrekter Vertrag nach den Regeln des kubanischen Arbeitsrechts (códico de trabajo) besteht, die im Sommer 2013 unter Beteiligung der Arbeitnehmer überarbeitet werden, und wenn ein Teil des erzielten Mehrwerts, der dem Unternehmer originär zufällt, nachträglich durch den sozialistischen Staat weggesteuert wird.

Hierdurch ändert sich nichts Grundsätzliches an dem Tatbestand, dass in der Bilanz die Löhne der Angestellten auf der Seite der Passiva eingestellt sind, die als „erforderliche Posten“ der Produktion die Aktiva-Werte erhöhen. Wächst die Aktivseite rascher als die Lohnkosten auf der Passivseite, erhöht sich das Kapital (Betriebsvermögen) des Kleinunternehmers. Dem Kapitalisten fällt ein Teil des gestiegenen Mehrwerts als zusätzlicher Profit zu.

Das sind Kausalitäten, die nur durch die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln aufgehoben werden können. Offen bleibt – und dies ist Kern der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen im Kapitalismus –welcher Anteil des Gesamterlöses auf den Arbeiter fällt. Nebenbei: Die bilanztechnische Beschreibung des Ausbeutungsvorgangs ist „eleganter“ als der komplexe Prozess der Ausbeutung nach den Vorstellungen von Marx über das Wertgesetz. Zudem „umschifft“ der bilanztechnische Weg das Postulat des Wertgesetzes, eine einheitliche Profitrate vorauszusetzen, dessen langfristige Realisierung in der Wirtschaft von bürgerlichen Ökonomen aber auch von italienischen Marxisten bestritten wird.

Es ändert sich auch nichts an dem Tatbestand, dass der Unternehmer innerhalb des Arbeitsmarktes selektiert, d.h. die Arbeitnehmer aus dem Angebot an Arbeitssuchenden in Betracht zieht, die in das „Profil“ des Unternehmens passen, eine Prozedur der Abhängigkeit, die die Autorin ausdrücklich im Interesse der Ertragsmehrung des Unternehmers befürwortet.

Auch hier gilt: Dieses Machtgefälle kann durch das Arbeitsrecht nur gemildert, aber nicht aufgehoben werden, wie auch die Direktionshoheit des Chefs in den staatlichen Unternehmen gegenüber dem Angestellten. In den Artikeln 31 des neuen Arbeitsgesetzes und folgende unter dem Abschnitt „Idoneidad Demostrada“ hat der Arbeitnehmer einen „Nachweis seiner Fähigkeiten“ für das Wohl des Unternehmens zu führen. Allein durch Arbeitszeitverkürzungen bei voller Lohnfortzahlung kann der Dispositionszugriff der Leitung und damit seine Macht, die er auf die Lebensgestaltung des Arbeiters ausübt, eingeschränkt werden. Die Macht ist nach einem Vorschlag des analytischen Marxisten im Gefolge des Philosophen Foucault allgegenwärtig. Die Eigentumsverhältnisse sind zwar eine gewichtige, aber nur eine von möglichen Ausflüssen von Macht.

In Kuba ist die Macht seit über fünfzig Jahren sozialistisch, seit dem Triumph der Revolution. Diese sozialistische Macht wacht darüber, dass politischer Missbrauch aus dem Besitz von Produktionsmitteln nicht entstehen kann, in dem Sinne dass die Gruppe von Kleinunternehmen ihre Profite und Kapitalien zur Ausübung von kapitalistischer Macht einsetzen könnte. Von dieser Seite droht dem Sozialismus keine Gefahr.

Eine - theoretische - Bedrohung könnte eher aus einer „dynamischen Praxis“ der Aktivitäten der privatwirtschaftlich ausgerichteten Unternehmen erwachsen - im Gegensatz zu den staatlichen. An eine solche Dynamik glauben auch Partei und die Regierung, sonst hätten sie die kapitalistische Unternehmensform nicht in Kuba eingeführt und erweitert. Sie gehen davon aus, auch in Zukunft der Herr im eigenen sozialistischen Hause zu sein und dass eine streng kontrollierte Arbeit auf eigene Rechnung die Produktion im Dienste des Volkes vermehrt und auf dieser Weise den Sozialismus perfektioniert. Sie können aber die psychologischen Auswirkungen, die von privatwirtschaftlichen Modellen ausgehen könnten, nicht direkt beeinflussen.

Raúl Castro: Beschädigung der sozialen Moral in der kubanischen Gesellschaft

Die alarmierende Aufzählung von Verletzungen der Moral und der sozialen Disziplin in der kubanischen Gesellschaft durch Raúl Castro auf dem 8. Plenum der Nationalversammlung am 7. Juli 2013, beherrscht die interne Diskussion und wird sie weiter beschäftigen. In scharfen Worten – wäre er Christ könnte man von einer „Kapuzinerpredigt“ sprechen - prangert er die Beschädigung (deterioro) der sozialen Moral an. Die Beschädigung reicht von dem Kauf von Noten an den Universitäten, über laute Musik in den Straßen, Belästigungen der Touristen durch Kubanerinnen, die Raubfischerei von Langusten, bis zu Betrügereien bei der Abrechnung von Arbeitszeiten in den Betrieben.

Es sind Beschädigungen, die tief in den Alltag der Gesellschaft greifen. Das Problem liegt nicht nur bei den Verletzern der sozialen Moral. Was dem Schaden die ganze Dimension verleiht, sind die Dulder der Beschädigungen, die sie wahrnehmen, die sie beklagen, denen sie aber zu wenig Paroli bieten. Weil diese Beschädigungen tief in den kubanischen Alltag hinein reichen, sind zeitlich begrenzte Kampagnen des Staates und der Partei zu kurz gegriffen. Seine Rede ist als Appell an die „Unbeschädigten“ der Gesellschaft zu verstehen, im kubanischen Alltag an allen Orten gegen die Verletzung der sozialen Moral anzugehen, in den Familien, Schulen, Behörden, Betrieben und auf der Straße. Welche Rolle kann in dieser Situation die 'Cuenta-propria' spielen?

Mehr kleine Kapitalisten bringen keine Lösung

Die Arbeit auf eigene Rechnung greift in den sozialistischen Charakter der Arbeit ein.

Der Staat hat es in den Griff, das heute begrenzte Operationsfeld der Arbeit auf eigene Rechnung auszudehnen. Aber wäre die Ausweitung des Privaten in der Wirtschaft ein geeignetes Mittel, die soziale Disziplin und Moral in der Gesellschaft zu erhöhen? Die Beantwortung hat eine ökonomische und zugleich eine ethische Komponente. Ein gewichtiger Punkt der moralischen Krise ist die frustrierende Einsicht in breiten Schichten der Bevölkerung, dass von der jetzigen Basis der Ökonomie aus keine rasche Verbesserung des privaten Wohlstandes in Sicht ist. Mehr Wohlstand ist an den Zuwachs an Produktivität gebunden.

Dass Bildung und Gesundheitsvorsorge gratis ist, wird heute als „normal“ angesehen. Würde man die riesigen sozialen Aufwendungen im sozialen Sektor auf das eigene Einkommen einrechnen, sähe die Gesamtbilanz für den Einzelnen besser aus. Das durchschnittliche Privateinkommen in Kolumbien ist zum Beispiel höher als in Kuba, die Kosten eines längerer Aufenthalt im Krankenhaus könnten aber alles Ersparte – falls vorhanden – verschlingen, und den Betroffenen in die Verschuldung treiben.

Von einer Ausweitung des privaten Unternehmertums könnte ein weiterer Teil der Bevölkerung sich eine Besserung erhoffen, die – theoretisch – in seiner Hand läge. Diese Hoffnung muss aber durch die Realität eingelöst werden, und bei 90 Prozent möglichen Scheiterns, von der die Autorin anfangs spricht, wäre der ökonomische Beitrag der privaten Unternehmen problematisch. Sie haben ihren politisch begrenzten Platz in dem Gesamtrahmen der sozialistischen Ökonomie.

Ein positiver moralischer Beitrag wäre mehr Eigenverantwortung. Die fehlende Verantwortung für das eigene Handeln ist eine Ausprägung des gesellschaftlichen Übels. Die Identität von Handeln in eigener Verantwortung und Belohnung wäre im ökonomischen Erfolgsfall gegeben. Dem stehen Egozentrik, mangelnde Solidarität und mehr soziale Ungleichheit gegenüber, die Privatunternehmen in die Gesellschaft zusätzlich einbringen würden. Die Gesamtbilanz ist zwiespältig.

Mehr Demokratie in den staatlichen Unternehmen, den gesellschaftlichen Institutionen und mehr Genossenschaften

Es sind die staatlichen Unternehmen, die den Charakter der Arbeit in Kuba prägen. Ihre innerbetriebliche alltägliche Erlebniswelt ist ein prägender Faktor für die moralischen Werte außerhalb der Fabriktore. Ihre relativ niedrige Arbeitsproduktivität hat eine Quelle in den Mängeln der administrativen Leitungen und der Demotivation der Arbeiter angesichts des niedrigen Lohnes. Da dieser sich nur allmählich erhöhen kann, „geschultert“ durch mehr Arbeitsproduktivität, schließt sich der circulus vitiosus. Dabei kann es nicht bleiben. „Kostenlos“ – und damit außerhalb des ökonomischen Zwangs - wäre es, die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeiter in den Unternehmen zu erhöhen, zugleich die Mitwirkungsrechte der Gesellschaft außerhalb der Unternehmen. Mehr Genossenschaften könnten gegründet werden, gepaart mit der Arbeit auf eigene Rechnung. Der sechste Parteitag hat die Rechte der Betriebsleitungen erheblich ausgedehnt, ohne deren Machtzuwachs durch mehr Mitbestimmung der Belegschaften auszugleichen (11). Dieses einseitige Vorziehen einer Gruppe kann den möglichen Missbrauch der Macht (abuso de poder) erhöhen.

Von der Arbeit auf eigene Rechnung zur Arbeit auf gesellschaftliche Rechnung

Mehr Mitwirkung in den Betrieben, den Verwaltungen auf allen Ebenen bis zur gesellschaftlichen Planifikation macht die Menschen nicht satter. Selber in der Produktion direkt mitzugestalten und somit für die eigene Arbeit verantwortlich zu sein, macht aber die Arbeiter zu einem bestimmenden Element neben den Leitungen, verbessert ihre Motivation und erhöht die Produktivität als Faktor von Lohnerhöhungen.

Ein Beispiel für Produktivität auf betriebswirtschaftlicher Ebene gibt die Arbeit auf eigene Rechnung. Sie hat in ihrer kapitalistischen Organisationsform aber Mängel. Die privatwirtschaftliche Organisation steht im Widerspruch zur  gesellschaftlichen Arbeit mit gesellschaftlicher Rechnung. Hier haben die Reformen anzusetzen. In einer neuen Form der Mitgestaltung ist die Aufstellung des volkswirtschaftlichen Rahmenplanes mit einzubeziehen. Das Verhältnis von Markt und Plan ist neu zu adjustieren. Elemente wie volkswirtschaftliche Lohnsumme, Investitionen, die Rate ihrer Aufteilung, der Außenbeitrag sind keine mysteriösen Veranstaltungen von Bürokraten sondern wichtige Elemente des Volksganzen. Eine demokratische Planifikation begrenzt das Chaos auf den Märkten. Nicht die Wirtschaft soll die Menschen, sondern die Menschen die Wirtschaft bestimmen.

Literatur

1. Librada Taylor Martínez, Y? Cuenta-Propista, El “abc” para emprender un negocio, Editorial Academia, La Habana, 2012

2. Die übliche Formulierung: „Eigentum des Staates“ umschreibt die faktische Lage in Kuba, wo das Volkseigentum durch die Institution „Staat“ verwaltet wird. Nach Karl Marx können auch „Assoziationen“ diese Position einnehmen, wie in der Pariser Kommune, wo der Staat sich aufgelöst hat.

3. Lazaro Ramos Morales, Gruppe Innomax, in Ratgeber, Prolog

4. Gerd Elvers, Akradabra in scharf-links

5. Gerd Elvers, Die aktuelle Debatte in Kuba über seine Zukunft, scharf-links, 15. August 2013

6. H. Bischoff/D. Damm, Arbeitsplätze selber schaffen, finanzieren und behalten, München 1985.

7. Lilian Ferias u.a., Medicamentos en Ruta ilegal

8. Das Spanische kennt nicht den internationalen Begriff „Profit“. „Ganancia“ kann wahlweise als Erlös, Gewinn, Profit übersetzt werden. „Profit“ gibt am besten den kapitalistischen Kontext wieder.

9. Ania Fernández Torres, Gatos, Cascabeles y Pueblo Asombrado II, AHORA! Holguin 27. Juli 2013

10. intervención, 7. Juli 2013, publiziert 8. Juli in der Parteizeitung Granma

11. Gerd Elvers, Akrakadabra, in: scharf-links


VON: GERD ELVERS






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