Die Oberhausener Tafel, Kinderarmut, ein Eifelmarkt, der SPD Parteitag und das Auseinanderfallen der Gesellschaft

11.11.07
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Von Ellen Diederich

Samstag, 27. Oktober 2007

In meinem Stadtviertel, Oberhausen Mitte, leben 48% der Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Bundesweit sind es 2.5 Millionen.

Drei von ihnen leben bei mir im Haus. Eine junge kurdische Familie aus Armenien, Asylbewerber, seit 7 Jahren hier, drei Kinder im Alter von 6, 4, und 2 Jahren. Sie bekommen immer für drei Monate ihre Duldung. Die Mutter steht oft nachts im Bett aus Angst vor Abschiebung. Sie gehören der religiösen Minderheit der Jessiden an, die sowohl in Armenien, aber auch im Irak sehr heftig verfolgt werden. Vor ca. 3 Monaten sind im Nordirak zwei jessidische Dörfer durch explodierende Tanklastwagen ausgelöscht, hunderte von Menschen ermordet worden.

"Die Geschichte der neuen Exklusion beginnt bei und mit den Flüchtlingen, das Asyl-, das Flüchtlings- und Ausländerrecht war und ist ihr Exerzierfeld, dort wurden Rechtsverkürzung, Leistungsverkürzung, Ausgrenzung erstmals ausprobiert und praktiziert. Bei den Flüchtlingen wurde die Politik der Entsolidarisierung eingeübt, Opfer waren die Schwächsten der Schwachen. Seitdem folgen die anderen Schwachen."
Heribert Prantl, Kein schöner Land, zit. Nach Contraste, Juli/August 2005

Die Kinder essen nicht gut. Sie sind oft krank. Für jeden Arztbesuch müssen sie sich einen neuen Schein beim Sozialamt holen. Wird ein Kind an einem Tag krank, an dem das Sozialamt keine Sprechstunde hat, können sie das Kind nicht zum Arzt bringen. Der älteste ist gerade in die Schule gekommen und dort schon zusammengebrochen. Er hat tiefe dunkle Augenränder. Er geht in eine Ganztagsschule, das Mittagessen dort können sie sich nicht leisten. Bei Sozialhilfe und Hartz IV sind 87 Cent für ein Kind zum Mittagessen eingeplant. Das Essen in der Schule kostet 2.20 €. Die Schule setzt die Mutter unter Druck, daß sie den Kindern Schwarz- und nicht Weißbrot mitgeben soll. Das ist teurer, gutes erst recht. Die angestiegenen Milchpreise sind für die Familie mit 3 kleinen Kindern katastrophal. Die Kinder spüren den Druck, unter dem die Eltern stehen. Ich helfe der jungen Mutter, mache ein Spiel aus dem Essen, so essen die beiden Jungen den Teller leer. Als der älteste den Kühlschrank aufmacht, um Milch herauszuholen, erstarre ich. Zwei Margarinebecher, etwas Käse, etwas Gemüse, Milch.  Ich selber bin erwerbslos, kann die Familie finanziell nicht unterstützen, kann ihr aber Hilfe geben, wenn sie bei Ämterpost und -gängen, Vermittlung zur Flüchtlingsberatung, einem Anwalt und bei der Kindererziehung Hilfe brauchen.

Oberhausen hat eine hohe Arbeitslosigkeit. Es gibt drei Ausgabestellen der Tafel.
Politisch bin ich gegen die Tafel. Warum? Weil sie eine Notlösung sind, die aber nichts und gar nichts mit wirklichen Lösungen zu tun hat. Es kann ja wohl nicht sein, dass in diesem reichen Land immer mehr Menschen von den zufälligen Resten leben müssen, daß arme Kinder keine Schulbücher mehr haben, die Gesundheitsversorgung schlechter wird. Gerade die Armen müssen sich gesund ernähren können. Daß die Menschen gute Nahrungsmittel essen, auch wenn sie arm sind, hat nichts mit Wohltätigkeit oder mit Notprogrammen zur Ernährung Hungernder zu tun. Das Konzept der Nahrungssicherheit ist das Ergebnis eines größeren Blickwinkels, der in erster Linie den/die BürgerIn und nicht den/die VerbraucherIn in den Mittelpunkt rückt.

Der Wohltätigkeitsgedanke muss fallengelassen werden.

Die bessere Konzeption ist die Befreiung aus der Wohltätigkeitsfalle. Die Pflicht der politischen Entscheidungsträger ist es, sich für eine Korrektur der Marktdefekte einzusetzen.

Mit der jungen Familie hier weiß ich mir keinen anderen Rat als zur Tafel zu gehen. Die Ernährungslage der Kinder und der jungen Mutter muß verbessert werden. Das Geld reicht nicht aus.

Am Samstagvormittag gehe ich mit ihr und den drei kleinen Kindern zur Tafel. Es ist Ende Oktober, kalt. Ich habe zurzeit noch eine Monatskarte, auf die ich am Wochenende eine erwachsene Person und drei Kinder mitnehmen kann. Wir können also mit dem Bus fahren, steigen an einer verkehrten Haltestelle aus und laufen ein langes Stück. Muß die junge Frau alleine gehen, läuft sie ca. 6 km hin und zurück. Geld für den Bus hat sie nicht.

Wir kommen gegen halb eins an der Ausgabestelle an. Es ist der Innenhof einer Kirche. Etwa 150 Menschen stehen bereits dort. Viele Gesichter sind grau, vom Leben enttäuscht und gebeutelt. Die Flucht in den Alkohol ist einigen anzusehen. Die Armut ist sichtbar, spürbar, zu riechen. Selber von Armut bedroht, spüre ich die Scham, die bei vielen da ist, bis ins Innerste. Am Samstag gibt es auch eine Suppenküche. Wir gehen hinein. Ein Mann hat die Aufgabe, "für Ordnung zu sorgen". Gib einem Mann eine kleine Macht und er wird sie auskosten. Im barschen Ton befiehlt er, fährt uns an, als wir uns zunächst mal umsehen: "Hier ist kein Aufenthaltsort, entweder gehen sie etwas essen oder wieder nach draußen".

Nur eines der Kinder möchte etwas essen. Ich setzte mich mit den Kindern hin und füttere sie wieder spielerisch. Nur so wird der Teller leer.

Das Prozedere bei dieser Tafel: Man muß um 12 Uhr da sein, um eine Nummer zu ziehen. Die Nummern sind in einem Korb. Man zieht nach dem Zufallsprinzip. Hat man Glück, bekommt man eine Nummer bis 20. Hat man Pech, bekommt man die Nummer 143. (Zum Glück war eine Freundin von uns schon um 12 da und hat für uns eine Nummer gezogen, noch mal Glück, es ist die Nummer 6)
Dann warten, draußen mit drei kleinen Kindern. Nach ein und einer halben Stunde gegen halb zwei beginnt die Ausgabe. Die Menschen haben sich nun nach ihren Nummern aufgereiht. Der Ordnungsmann fährt immer barsch dazwischen. Erst kommen die Schwerbehinderten. Dann jeweils 5 Personen. Die Ausgabestelle ist in der Kirche, sie ist von außen nicht einzusehen. Ich bleibe mit zweien der Kinder draußen. Drinnen werden die Lebensmittel zugeteilt, die Leute können sich nicht nach Bedarf etwas aussuchen. Nach ca 15 Minuten kommt die junge Frau aus dem Kirchenraum wieder heraus. An der Türschwelle kippt der Korb vom Rollerständer, den ich ihr gegeben hatte, alles liegt auf der Erde.  Sie packt schnell ein und kommt zur Tür. Wir gehen zum Hofausgang. Sie freut sich über das Gemüse und das Obst für die Kinder, was sie sich sonst nicht kaufen kann, ein Pfund Weintrauben, eine Ananas, Äpfel, Orangen, Bananen, alles an der Verfallsgrenze, Salat, Möhren, Rosenkohl, Paprika, Tomaten, Schokoladenpudding, ein paar Berliner.

An der Haltestelle stellen wir fest, daß der nächste Bus erst in 40 Minuten kommt. Also laufen wir zu Fuß zum Bahnhof. Die Kinder sind inzwischen sehr erschöpft, schlafen bald im Stehen ein. Am Bahnhof kommt gerade ein Bus, der die zwei Haltestellen bis zu uns fährt. Zuhause packen wir alles aus, die Kinder freuen sich über das Obst.

Dreieinhalb Stunden brauchen wir insgesamt, um eine Tasche Lebensmittel zu bekommen, die an der Grenze zum Verfallsdatum sind.

Ich backe mein Brot selber. Zurzeit kostet das Kilo Weizen noch 1 €, der Preis soll verdoppelt werden, Dinkel 1.70 €. Halb und halb und ein paar Sonnenblumen- oder Kürbiskerne und mein Brot kostet für zehn Tage 3 €. Ich werde der jungen Frau meine Kornmühle ausborgen, ihr zeigen, wie man Brot bäckt und die Ernährungslage ist noch ein kleines Stück besser.

Natürlich ist das alles, Tafel und Brot backen, keine Lösung, aber um die Kinder und die Mutter überhaupt erst mal in die Lage zu bringen, etwas stabiler zu werden, ist besseres Essen mehr als notwendig.

Im nächsten Jahr werde ich hier einen Interkulturellen Garten initiieren.

In Hof hinter unserem Haus und dem Zentrum K 14 ist an diesem Samstag ein "Eifelmarkt". Bauern und Bäuerinnen aus der Eifel stellen ihre Produkte vor und verkaufen sie. Käse, Wein, Wurst, Fleisch, geräucherte Forellen, Obst, Wollsachen, Obstbrände und anderes. Der Hof ist voll mit gut gekleideten Menschen. Die Produkte sind teuer. Ein kleiner Ziegenkäse kostet 5.40 €.

Ich liebe die Eifel sehr, bin so oft wie möglich dort. Kenne mich aus in der Schönheit der Landschaften, habe FreundInnen an der Ahr und in der Vulkaneifel. War im September ein paar Tage mit meiner Freundin Maria Mies dort, sie stammt aus der Vulkaneifel. Habe mir Wintervorräte, Kartoffeln, Rote Beete, Weizen, Dinkel, direkt von einem kleinen Bauernhof mitgebracht, mich mit Bauern unterhalten. Sie erzählen von den Problemen, dem Sterben der Bauernhöfe, der immer größeren Produktion von Mais für Biosprit zuungunsten landwirtschaftlicher Produkte für die Ernährung, ein Grund für den Anstieg der Weizenpreise. Ich sehe, was der Tourismus anrichtet, daß jetzt Gemeinden bereits Eintritt für den Wald erheben, wenn Kindergruppen mit BetreuerInnen im Wald eine Exkursion machen wollen.

Der Eifelmarkt hier ist ausschließlich auf Konsum ausgerichtet.

Die Gesichter der BesucherInnen des Eifelmarktes sind andere als die, die ich gerade im Hof der Kirche bei der Tafel gesehen habe.

Abends, zum Abschluß de Eifelmarktes gibt es eine Lesung mit 2 Eifel Krimiautoren. Einer von ihnen Jaques Berndorf, dessen politische Eifel Krimis ich schätze, sie sind gut recherchiert, einfach hervorragend. An diesem Abend liest er eher gruselige Dönekes, seine messerscharfen Analysen bundesrepublikanischer Wirklichkeit, die sonst die Eifel Krimis so spannend machen, kommen leider nicht vor.

Den Kindern der armenischen Familie ist aus unserem Hof ein kleines Fahrrad und ein Roller gestohlen worden. Die Eltern hatten unter großer Mühe das Geld dafür zusammengebracht. Wir sammeln bei der Veranstaltung, das Geld für die Anschaffung von zwei gebrauchten Kinderfahrrädern und einer Rollkarre für die Gänge zur Tafel und für ein paar Grundnahrungsmittel wie Reis, Nudeln, Öl, Mehl, Zucker, Weizenkörner kommt zusammen.
Die Kinder werden sich freuen. Sie brauchen Freude.

An diesem Wochenende ist der Hamburger Parteitag der SPD. Als ich die Fensterreden höre, muß ich abschalten, kann sie nicht ertragen. So viele Eitelkeiten, Gerangel um Macht und Positionen. Im Vorfeld ist ein Punkt der sozialen Ungerechtigkeiten wie kein anderer in den letzten Wochen hoch gekocht worden: Die Verlängerung des ALG I. Es war eine Machtprobe zwischen Arbeitsminister Müntefering und SPD Chef Kurt Beck und kein wirkliches Angehen der sozialen Probleme. Mit einem Mal Parteinahme für die Schwachen? Wer soll das glauben? Die dort reden, wissen nicht, von was sie reden. Sie sind Lichtjahre entfernt von den Erfahrungen dessen, was Armut in diesem reichen Land wirklich bedeutet. Besuche bei einer Tafel wären vielleicht eine erste heilsame Erfahrung.
Das Auseinanderfallen der Gesellschaft, in der ich lebe, war mir selten so sinnfällig wie an diesem Tag.

 


VON: ELLEN DIEDERICH

friedensa@aol.com




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