„Liebe Linke, erinnerst Du Dich noch an den Kampf gegen die Apartheid?“

04.03.08
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Interview mit dem Gründer der Kampagne für den kulturellen Boykott Israels, Omar Barghuti

Von Michelangelo Cocco, übersetzt und eingeleitet von Rosso*:

Rund um die Frage, wie die Linke sich zur Internationalen Turiner Buchmesse vom 8.-12.Mai 2008 verhalten soll, die in diesem Jahr dem Staat Israel gewidmet ist und sich damit sehr eindeutig in den Dienst der zionistischen Kolonialpolitik stellt, ist in der radikalen Linken Italiens, die bisher in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit antiimperialistisch eingestellt war, eine heftige Debatte entbrannt. Dass führende Vertreter von Rifondazione Comunista (PRC), die als Mitglied der Prodi-Regierung bis zu deren Sturz Ende Januar 2008 alle Militäreinsätze der NATO- und G8-Macht brav mitgetragen und in Gestalt von Fausto Bertinotti die im Libanon stationierten und sogar für ihre rechtsradikale Gesinnung bekannten Falschirmjäger als "bestes Aushängeschild Italiens" gepriesen hat, jeden ernsthaften Protest oder Widerstand gegen eine solche Propagandaveranstaltung für Israel scharf ablehnt, ist nicht weiter verwunderlich. In ihrer Parteizeitung "Liberazione" kommen in den letzten Monaten auch beim Thema Libanon vorzugsweise NATO- und US-Vasallen wie Dschumblatt oder die Hariri Incorporation zu Wort und wird in Sachen Kuba und Venezuela seitenlang die westliche Propaganda reproduziert.

Gravierender war da schon das Plädoyer des 75jährigen "il manifesto"-Mitbegründers und Verwaltungsdirektors Valentino Parlato gegen einen Boykott der Messe, für den sich bereits viele jüdische und nicht-jüdische linke und linksliberale Intellektuelle ausgesprochen haben. Parlatos Editorial provozierte eine Welle von Leserbriefen, die fast alle Gegenposition bezogen. Auch die Redaktion ist in dieser Frage (und in der Palästina-Frage generell) in zwei Lager gespalten. Insgesamt muss man konstatieren, dass sich bei den linken Vordenkern, aber auch bei einem Teil der Basis, der Rechtstrend, das heißt die Integration in das imperialistische System bzw. die Heimkehr in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft (als Neoliberale oder als wachsweiche Neo-Sozialdemokraten) weiter fortsetzt. Die Dominanz der Neo-Biedermeier-Kultur, die wir seit 1989 / 90 erleben, ist auch in Italien noch nicht gebrochen, wenngleich sie erste Risse zeigt und der erneute blutige Vernichtungsfeldzug Israels gegen den Gaza-Streifen die Freunde des "zivilisierten" Kolonialismus oder die Ritter und Burgfräulein der "Äquidistanz" vor neue Probleme stellen wird.

Es würde unsere zeitlichen Möglichkeiten überfordern, diese Debatte, die noch längst nicht beendet ist und kurz vor der Messe mit Sicherheit einen weiteren Höhepunkt erreichen wird, in ihrer ganzen Breite zu dokumentieren. Daher im Folgenden fürs Erste das Interview mit dem Gründer der Kampagne für einen kulturellen Boykott Israels, Omar Barghuti. Es erschien in der unabhängigen, linksradikalen (nominell "kommunistischen") Tageszeitung "il manifesto" vom 22.1.2008.


"Liebe Linke, erinnerst Du Dich noch an den Kampf gegen die Apartheid?"

Die Israel gewidmete Buchmesse in Turin und die in der Frage eines Boykotts gespaltene italienische Linke. Es spricht der Gründer der Kampagne für den kulturellen Boykott Israels, Omar Barghuti.

Michelangelo Cocco

Sie haben ein kleines Plakat vorbereitet, auf dem steht: "60 Jahre Enteignung der Palästinenser! Es gibt keinen Grund, um ‚60 Jahre Israel' zu feiern!" Sie werden versuchen, es als Anzeige auf den Innenseiten der "New York Times" und der "International Herald Tribune" zu veröffentlichen. Unterdessen erreicht die italienischen Pazifisten von der palästinensischen Kampagne für den kulturellen und akademischen Boykott Israels (PACBI, www.pacbi.org) eine Botschaft ohne Wenn und Aber: Boykottiert die (für den 8. bis 12.Mai 2008 vorgesehene) Internationale Buchmesse in Turin! Der Gründer der Kampagne, Omar Barghuti, weist die Kritik der institutionellen Linken am Telefon in Jerusalem zurück und erwidert: Wer nicht boykottiert - so seine Behauptung -, der ist "Komplize des Rassismus".

"Liberazione" schrieb, dass "der kulturelle Boykott eine gefährliche Antwort ist, weil sie zu einer Radikalisierung der Positionen führt". Was meinen Sie dazu?

"Es scheint, dass die italienischen Kommunisten ein sehr kurzes Gedächtnis besitzen. Sie vergessen, dass, um die Apartheid zu beseitigen, gegen Südafrika ein totaler Boykott verhängt wurde, der sowohl seine Institutionen als auch die Individuen traf. Wir fordern, dass Tel Aviv nur in seinen Institutionen getroffen wird. Wenn ein Land Verbrechen begeht, ständig das internationale Recht verletzt und seine kulturellen Institutionen dabei Komplizen sind, dann wirst Du, wenn Du die nicht boykottierst, selbst zum Komplizen."

Die Schriftsteller seien für die Politik ihrer Regierungen nicht verantwortlich, argumentieren die Gegner des Boykotts.

"Die ideologische Grundlage einer jeden Gesellschaft bilden intellektuelle und kulturelle Figuren, die Schriftsteller eingeschlossen, die stets, zumindest zum Teil, mitverantwortlich sind. Dies bedeutet nicht, dass sie für jede Aktion der Regierung bestraft werden müssen. Wenn es allerdings eine direkte Verbindung gibt, das heißt, wenn das, was sie schreiben, Propaganda für einen Staat ist, der internationale Verbrechen begeht, dann sind sie als schuldig zu betrachten."

Was werfen Sie Autoren wie Abraham Yehoshua, Amos Oz und David Grossman, die alle auf die Internationale Buchmesse eingeladen sind, vor?

"Ich glaube, dass Yehoshua, Oz und Grossman Rassisten sind, weil sie die ethnische Säuberung, die während des Konfliktes 1948 gegen die Palästinenser betrieben wurde, rechtfertigen und nicht glauben, dass der Friede auf dem Völkerrecht beruhen muss. Sie wollen, dass die Grenze zwischen Israel und Palästina auf der Grundlage der ‚demographischen Realität' gezogen wird, wie Oz sogar geschrieben hat. Yeoshua, Oz und Grossman gehörten - während dieser Intifada - zu den Ersten, die in ganz Israel Annoncen veröffentlichten, in denen stand: Wir können das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge in keiner Weise akzeptieren, weil das Israel vom demographischen Standpunkt aus schaden würde. Sie behaupten, dass die Flüchtlinge, da sie keine Juden sind, kein Recht besäßen, zurückzukehren. Ich bin der Ansicht, dass das Rassismus ist."

In einem Kommentar in "il manifesto" schrieb der Forscher Simon Levis Sullam, dass "die Boykotte selbst den Prinzipien der Kultur widersprechen, die gerade im Dialog und in der Auseinandersetzung bestehen". Was meinen Sie dazu?

"Ich denke, dass wir seit 40 Jahren unter Besatzung leben und zu sagen, dass das etwas mit Rassismus zu tun hat, ruft nur deshalb große Abwehrreaktionen hervor, weil man Angst vor den pro-israelischen Lobbys und vor dem Stigma des Antisemitismus hat."

Ein Regionalrat <=Landtagsabgeordneter> der Partei der Italienischen Kommunisten (PdCI) hat gefordert, dass die Messe die Präsenz von Palästinensern "hinzufügen" solle. Würde Euch auch das nicht reichen?

"Zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem gibt es keine Mittelwege. Nach solchen zu suchen, bedeutet den Unterdrücker zu unterstützen. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten gibt es nichts moralisch Äquivalentes. In den 70er Jahren wäre der Vorschlag, die rassistischen Buren zusammen mit dem African National Congress (ANC) einzuladen, niemals akzeptiert worden. Moralische Gleichsetzungen dieser Art sind inakzeptabel."

Was würdet Ihr den pro-palästinensischen Gruppen empfehlen, die derzeit über Aktionen gegen die Messe nachdenken?

"Nicht aufzugeben, weil der Boykott die einzige moralische Art ist, Israel in der internationalen Arena entgegenzutreten. Man muss auch auf kulturellem und akademischem Gebiet für die Isolation Israels kämpfen, weil die kulturellen und akademischen Institutionen in Israel Komplizen der Verbrechen des Staates sind. Es gibt keinen Elfenbeinturm, in dem die Intellektuellen über dem internationalen Recht stehen. Wenn sie eine moralische Position beziehen, wenn sie sich zum Komplizen machen, indem sie Morde und Verletzungen des Völkerrechts rechtfertigen, gut, dann müssen sie bestraft werden."

Gibt es Intellektuelle, die Sie gern auf einer alternativen Buchmesse sehen würden?

"Mit Sicherheit. Man könnte Palästinenser und Israelis einladen, die Widerstand gegen die Unterdrückung leisten. Das hätte dann wirklich Sinn. Da würde ich mir Leute wie Ilan Pappe, Haim Bresheet, Oren Ben-Dor und andere wünschen. Da gibt es viele. Es würde jetzt zu lange dauern, sie alle aufzuzählen."


Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:   * Rosso

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik "Aktuelles" bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).
Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch

 







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