Interview mit Maha Azzam, der Expertin für islamistische Bewegungen des britischen Instituts für Internationale Angelegenheiten Chatham House. Von Tiziana Barucci, übersetzt und eingeleitet von Rosso*:
Auch wenn es eine viel benutzte Metapher ist: In Israel geht derzeit ein Gespenst um, das Gespenst einer "dritten Intifada". Darin stimmen nicht nur die ARD-Korrespondentin aus Tel Aviv, Bettina Marx, "Haaretz"-Kommentator Zvi Barel, Mahmud Abbas' Pseudo-Autonomiebehörde und die Islam-Expertin des britischen Instituts für Internationale Angelegenheiten Chatham House, Maha Azzam überein. Auch die "Neue Zürcher Zeitung" berichtete am 8.3.2008 nach der palästinensischen Vergeltungsaktion in Jerusalem für das Massaker Anfang März in Gaza von der "Furcht vor einer dritten Intifada":
"Die Polizei und die Armee haben Arabern aus Cisjordanien die Einreise nach Israel für das gesamte Wochenende untersagt. In der israelischen Bevölkerung gibt es Befürchtungen, dass die Bluttat der Anfang einer dritten Intifada sein könnte. Vergangene Woche war es in Jerusalem als Reaktion auf die Militäroperation im Gazastreifen - bei denen über hundert Palästinenser, unter ihnen die Mehrzahl Aktivisten militanter Gruppen, getötet wurden und die ihrerseits eine Antwort auf die anhaltenden Raketenangriffe auf Sderot und Ashkelon war - zu wüsten Ausschreitungen gekommen. Zwei Verkehrspolizisten, die mit ihrem Fahrzeug in eine Demonstration geraten waren, wurden von arabischen Jugendlichen mit Steinen und Metallstangen angegriffen und gaben später zu Protokoll, dass sie Angst gehabt hätten, sie würden von der zornigen Menge gelyncht."
Die von der italienischen Noch-Regierungspartei Rifondazione Comunista (PRC) herausgegebene Tageszeitung "Liberazione" brachte am 4.3.2008 zur Lage in Palästina das folgende Interview mit der Chatham House-Analytikerin Maha Azzam. Einige von dessen Prognosen sind bereits eingetreten. Schneller als er es vielleicht selbst erwartet hatte.
"Die dritte Intifada? Ist wirklich sehr nah"
Interview mit Maha Azzam, der Expertin für islamistische Bewegungen des britischen Instituts für Internationale Angelegenheiten Chatham House. "Langfristig werden Hamas und Fatah immer schwächer. Das Entstehen einer dritten palästinensischen Führung ist möglich."
Tiziana Barrucci
"Die dritte Intifada ist eine Möglichkeit, die nicht weit entfernt ist. Vor allem weil die wirtschaftliche Lage der Palästinenser wirklich kaum noch zu ertragen ist." Maha Azzam ist Forscherin und Expertin für islamistische Gruppen am Institut für Internationale Angelegenheiten Chatham House und lebt in London. Gegenwärtig schreibt sie an einem Buch über den politischen Islam. Was die Situation anbelangt, die in diesen Stunden im Gaza-Streifen herrscht, hat sie wenig Zweifel. Die war vorhersehbar und wird für noch größeres Chaos sorgen. Ein Teufelskreis, den zu sprengen, keinem gelingt.
Warum hat Israel den Gaza-Streifen angegriffen?
"Der israelische Angriff war keine Überraschung. Seit sich die Lage in Gaza radikalisiert hat, hatte Tel Aviv die Absicht das zu tun. Im Übrigen haben die Israelis niemals aufgehört, sich in einem Kriegszustand zu sehen und sind mittlerweile von den Sicherheitsfragen besessen."
Glauben Sie, dass es sich um einen strategischen Fehler handelt?
"Mit Sicherheit wird die israelische Verschärfung der Lage zu noch größerem Chaos führen. Vom Standpunkt Israels aus wird die Situation allerdings unter Kontrolle bleiben. Auf internationaler Ebene ist klar, dass jede Art von Sanktion, niemals effektiv umgesetzt wird. Das war immer so. Was die Palästinenser anbelangt, weiß Tel Aviv, dass der Feind langfristig gespalten bleibt."
Sie glauben also nicht an eine Wiedervereinigung der palästinensischen Kräfte, aufgrund der Wut und den Rachegelüsten gegen einen gemeinsamen Feind?
"Mahmud Abbas konnte in den letzten Stunden gar nicht anders als die Unterbrechung der Gespräche zu verkünden. Die Israelis wissen aber, dass Abbas ihnen definitiv sehr viel näher steht als der Hamas. Aus diesem Grund bin ich sicher, dass sie langfristig ihren Gesprächspartner nicht verlieren werden, auch wenn er durch diese Ereignisse geschwächt und noch isolierter ist. Das, was in den letzten Tagen in Gaza geschehen ist, ist in gewisser Hinsicht ein ‚Sieg' der Hamas, vor allem was ihre Popolarität angeht. Gleichzeitig wissen die Palästinenser, was es ihnen in punkto wirtschaftliches Desaster und Isolation von der Welt eingebracht hat, dass sie die islamistische Bewegung gewählt haben. Und sie sind sich darüber im Klaren, dass sie sich einen solchen Fehler nicht noch einmal erlauben können. Deshalb wird die Hamas populärer, ihre Regierung aber immer schwächer werden. Ohne dabei <überhaupt> in Rechnung zu stellen, dass sie weiterhin unter wirtschaftlicher und militärischer Belagerung bleiben werden."
Jetzt werfen aber auch die Palästinenser aus Cisjordanien Steine auf die israelischen Soldaten...
"Sicher, Wut und Frustration sind stark. Aber es ist inzwischen klar, dass sich, wenn die Palästinenser ihre Führer frei wählen könnten und die Hamas wählen würden, die ganze Welt gegen sie wenden würde. Kurzfristig wird die Popolarität der islamischen Bewegung zunehmen und mit Sicherheit werden wir weitere Islamisierungsprozesse erleben. Langfristig wird die Lage allerdings anders aussehen. Das hat nichts mit der stärkeren oder schwächeren religiösen Neigung der Palästinenser zu tun, sondern schlicht und einfach mit einer realen Politik. Ismail Hanijas Bewegung hat seit dem Wahltag viel versprochen. Es ist ihr aber nicht gelungen, diese Versprechen zu halten. Die Hamas-Regierung wird immer schwächer, zugrunde gerichtet durch die politische und ökonomische Isolation."
Gibt es Voraussetzungen für die Bildung eines dritten politischen Pols?
"Vorläufig handelt es sich um Spekulationen, weil es noch keine Belege dafür gibt. Aber ja, ich glaube, dass das Entstehen und die Entwicklung einer Führung, die in der Mitte zwischen derjenigen der Fatah und der Hamas steht, eine konkrete Möglichkeit ist. Zum Beispiel jemand, der sagt: Schluss mit den Tötungen israelischer Zivilisten, gleichzeitig aber Tel Aviv gegenüber nicht so entgegenkommend ist."
Werden wir eine dritte Intifada erleben?
"Das ist möglich. Sie könnte kurz bevorstehen. Vor allem dann, wenn sich die Israelis weiterhin belagert fühlen und die Palästinenser weiter unter Belagerung halten. Eine wahrscheinliche Möglichkeit, weil der Angriff der letzten Tage der Vorbote weiterer ist. Ich sehe die kommenden zwölf Monate als ein ständiges Stop and Go. Angriffe und momentane Feuerpausen, werden sich lange Zeit abwechseln. Die Lage der Palästinenser ist schrecklich und sie wird sich noch weiter verschlimmern. Deshalb die Wut der Massen und daher die zunehmende Gewalt. Das wird spiegelbildlich zu einer Schwächung beider Führungen führen."
Es wird eine Gewalt gegen Israel sein, aber auch eine unter Palästinensern?
"Die Intensivierung der israelischen Angriffe wird die Gewalt unter den Palästinensern mit Sicherheit abklingen lassen. Das bedeutet allerdings keine langfristige Einheit."
Und der Rest der arabischen Welt? Zuschauer wie immer?
"Die arabischen Regierungen werden einerseits mit ihren pro-palästinensischen Grundsatzerklärungen fortfahren und andererseits mit ihrer Kompromisspolitik gegenüber den Israelis. Dieser Tage wurde bekannt, dass Ägypten zu niedrigen Preisen Erdöl an Israel verkauft hat und zwar genau in dem Augenblick, als man die israelische Regierung aufgrund der Angriffe in Gaza verurteilte. Es ist klar, dass in den Medien und auf der Straße die Wut über ein solches Verhalten zunehmen und die Regime schwächen wird. Dabei handelt es sich allerdings um langfristige Prozesse, die nicht zu unmittelbaren Veränderungen führen werden."
Vorbemerkung, Übersetzung + Einfügung in eckigen Klammern: * Rosso
Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik "Aktuelles" bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).
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