Von Edith Bartelmus-Scholich
Die Unruhen in Tibet gehen weiter, aber von einem Volksaufstand zu sprechen erscheint gewagt. Die Rebellion gegen die chinesische Herrschaft geht von den buddhistischen Klöstern aus und kommt über die Mönchskaste wenig hinaus. Es mag sein, dass weitere Teile der Bevölkerung sich mitvertreten fühlen, und dass es dem historisch gewachsenen Selbstverständnis der Bevölkerungsmehrheit Tibets entspricht, den Mönchen die Führungsrolle zu überlassen, sicher ist es jedoch nicht. Dass die Proteste nicht spontan, sondern in Abstimmung mit der Exilregierung des 14. Dalai Lama ausgebrochen sind, kann hingegen mit weitaus größerer Sicherheit angenommen werden.
Seit Jahrzehnten betreiben der 14. Dalai Lama, die von ihm angeführte Exilregierung und ihm politisch nahestehende Tibeter weltweit Kampagnen gegen die chinesische Herrschaft und für die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet. Es darf angenommen werden, dass die innerhalb und außerhalb Tibets wirkende Mönchskaste mit dem Dalai Lama an der Spitze die Revolte ausgelöst hat, da die olympischen Spiele in Peking im Sommer 2008, eine größere Öffentlichkeit für den Aufstand und die begleitenden Kampagnen garantieren.
Vor seiner Flucht ins indische Exil war der Dalai Lama sowohl als geistiges, als auch als weltliches Oberhaupt in Tibet. Er regierte als Gottkönig, gestützt auf die Mönchskaste, welche die Bildung vollständig und den Landbesitz überwiegend für sich monopolisiert hatte. Der tibetische Buddhismus war Basis von Staat und Gesellschaft, von Gesetz und Ordnung. Im Rahmen dieser Ordnung lebte der größte Teil der Bevölkerung Tibets in Unwissenheit und Armut, oft als Sklaven und Leibeigene. Diese Norm soll nach dem Willen der Mönchskaste grundsätzlich wieder hergestellt werden, wobei einige Modernisierungen sicher unausweichlich wären.
Außenpolitisch wurden die Interessen Tibets schon seit dem 18. Jahrhundert von der jeweiligen chinesischen Zentralregierung vertreten. Völkerrechtlich ist daher der Status von Tibet umstritten. Seine Souveränität wurde bis heute von keiner anderen Regierung anerkannt. Vielmehr behandelten alle ausländischen Mächte Tibet als Teil des chinesischen Großreichs.
Unabhängig von der völkerrechtlichen Situation verdient die Tibet-Politik der chinesischen Regierungen nach 1950 harsche Kritik. China hat mit dem Mittel der Militärpräsenz und mit der Ansiedlung von Millionen Han-Chinesen im tibetischen Kulturraum versucht das Gebiet zu stabilisieren und eine Assimilation zu erzwingen. Dabei stützte sich die chinesische Herrschaft in zunehmenden Maß auf Han-Chinesen. Diese partizipierten auch überwiegend von der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung des Landes, selbst dann, wenn Tibeter für eine Arbeit sinnvoll eingesetzt werden konnten, wurden Han-Chinesen bevorzugt. Im Jahr 2006 wurden z.B. nach Medienberichten alle Tibeter, die als Touristenführer tätig waren, durch Han-Chinesen ersetzt. Noch heute lebt mehr als 70% der indigenen Bevölkerung Tibets ohne Bildung und in Armut von den traditionellen Erwerbszweigen Landwirtschaft und Viehzucht. China hätte sicher bei einer anderen Entwicklungspolitik, die den Tibetern Bildung und Arbeit eröffnet hätte, heute geringere Probleme in Tibet.
Der seit 1980 laufende Umbau der sozialistischen chinesischen Wirtschaft zu einer kapitalistischen hat der chinesischen Herrschaft in Tibet auch den letzten Rest des Anspruchs genommen, im Rahmen eines emanzipatorischen Projektes in und für Tibet tätig zu sein. Heute ist wohl unstrittig, dass die chinesische Zentralregierung das Gebiet aufgrund seiner geostrategischen Lage im Himalaya und aufgrund seiner reichen Bodenschätze behaupten will. Ebenso wenig kann bezweifelt werden, dass die übrigen imperialistischen Mächte, auch genau deswegen ein Interesse an der Befreiung Tibets von der chinesischen Herrschaft haben.
Eine linke Tibet-Politik muss aus dem Spannungsfeld von Völkerrecht, Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Ansprüche an einen emanzipatorischen Prozess entwickelt werden. Sich auf den Standpunkt zu stellen: Völkerrechtlich gehört Tibet seit langem zum multi-ethnischen chinesischen Staat und daher jede separatistische Bewegung abzulehnen, wird dem ebenso wenig gerecht wie eine reine Deklamation des Selbstbestimmungsrechts der Völker verbunden mit einer Unterstützung jedes beliebigen Befreiungskampfs. Statt dessen ist konkret zu fragen, wer hat welche Interessen, was ist unter Berücksichtigung des Völkerrechts und der Kräfteverhältnisse in der Region realistisch machbar und wem nutzt welche Lösung.
Grundsätzlich sollte die Linke das Völkerrecht so weit respektieren, als das sie eine militärische Intervention kategorisch ausschließt. Ebenso grundsätzlich sollte sie bejahen, dass Menschen das Recht haben, sich frei zu assoziieren, auch wenn sie damit in Widerspruch zu anerkannten - und durch Machtpolitik begründeten - Zentralregierungen geraten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker kann als ein aus dem Recht zur freien Assoziation der Menschen abgeleitetes Recht aufgefasst werden. Keiner Bevölkerung ist zumutbar auf Dauer in einem Herrschaftsverband oder einer Herrschaftsform zu leben, die nicht die Zustimmung der breiten Mehrheit dieser Bevölkerung findet. Für Tibet bedeutet dies, generell hat die tibetische Bevölkerung dann ein Recht auf eine eigenen Staat, wenn es nach einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess eine Mehrheit dafür gibt. Die Argumentation, dass eine Bevölkerung schon lange und nach Völkerrecht in einen Staat eingegliedert war, kollidiert mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist von seinem Wesen als ein Recht auf freie Assoziation und Selbstregierung zu verstehen. Es wird damit durch eine Bewegung zum Ausdruck gebracht, die tatsächlich den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung umfasst und nicht nur gewisse Interessengruppen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Nation als Konstrukt nur so fortschrittlich ist, wie die Klassenbasis auf der sie errichtet wurde. Dem entsprechend hat die Erfahrung gezeigt, dass es keinen Automatismus der Weiterentwicklung einer nationalen Befreiungsbewegung zu einer Bewegung mit weiter gehenden emanzipatorischen Zielen gibt, sondern, dass vielmehr eine nationale Befreiung, die von reaktionären Kräften angeführt wird, eine längerfristige Periode von verschärfter Entrechtung und Ausbeutung im Rahmen einer erkämpften neuen staatlichen Ordnung einleiten kann. Eine nationale Befreiung Tibets, die in einen fundamentalistischen Gottesstaat führt, in dem Herrschaft nicht an demokratische, politische Prozesse, sondern an religiöse Gebote und Hierarchien gebunden wird, wäre kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Deswegen kann der Dalai Lama und die tibetische Mönchskaste nicht Bündnispartner linker Kräfte sein.
Linke Intervention sollte vor diesem Hintergrund darauf setzen, China auf friedlichem Wege zur Veränderung seiner Tibet-Politik zu veranlassen. Dazu gehört das Bestehen auf der Einhaltung der Menschenrechte und die Gewährung demokratischer Rechte, aber ebenso die Forcierung einer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungspolitik, die der indigenen Bevölkerung Tibets zu Gute kommt. Zusätzlich sollte die Linke perspektivisch fortschrittliche demokratische Bewegungen und politische Kräfte in Tibet unterstützen.
Edith Bartelmus-Scholich, 29.3.08