Gisela Elsners Roman aus dem Nachlass "Otto der Grossaktionär"
Eine Buchvorstellung von Stefan Gleser
Der Kleinsteigentümer gebiert den Kapitalismus jeden Tag aufs Neue.
Otto, Arbeiter in der Ungeziefervertilgungsmittelfabrik "Fata", prahlt mit seinen fünf Aktien "seiner" Firma so, dass er im Viertel nur "Otto der Grossaktionär" genannt wird. Otto besitzt auch einen gebrauchten Mercedes, der sich nur bei genauer Inspektion vom gepanzerten Mercedes des Direktors unterscheidet. Auf seinen Sohn Wolfram-Gundolf, der als Bankangestellter anderer Leute Geld zählt, ist er ungeheuer stolz.
Sein Verhalten auf Mallorca und seine Wohnungseinrichtung deuten auf den autoritätsseligen Untertan. Nur im Betrieb entwickelt Otto so etwas wie Eigensinn. Er ist als "Tierbetreuer" tätig. Betreuen steht im "Wörterbuch des Unmenschen" und bei der "Fata" steht betreuen für vernichten. Gegenüber Ratten erweist sich allerdings das Ungeziefervertilgungsmittel als recht harmloses Pülverchen. Otto und sein Kollege Erpenbeck müssen mit dem Beil nachhelfen: Nur so kommen die Vorgaben des Abteilungsleiters und die Formeln der Chemie in Einklang mit der Wirklichkeit.
Um jeden Verdacht von sich zu weisen, steigt Otto später auf Nylonschnüre um. Er erwürgt mit ihrer Hilfe die Tiere. Otto wirkt sozusagen als zuvorkommender Saboteur. Er erfüllt die Wünsche seines Vorgesetzten, in dem er ihn hintergeht. Bei den Kunden des Ungeziefervertilgungsmittels hält sich die Begeisterung in Grenzen. Angesichts der Unwirksamkeit ihrer Produkte führt Fata erst Kurzarbeit ein und entlässt dann Mitarbeiter. Die human resource wird zu neuen beruflichen Herausforderungen aktiviert.
In dieser Situation steht Melanie Schwalm, die Tochter des Direktors, der Firma bei. Bei Melanie ist die Liebe zum Proletariat, die zum Terrorismus führt, wahrscheinlich eine vorübergehende Unpässlichkeit der grossbürgerlichen Jugend. Man hatte die Masern, man hatte den Linksradikalismus. Melanie Schwalm verteilt vor dem Fabriktor Flugblätter. Sie berichten über Einkommen und Lebensweise ihres Vaters. Sie verübt einen Bombenanschlag auf die Fabrik, wobei der Pförtner einen Arm verliert. Dies gibt der "FATA" die Gelegenheit, sich der Öffentlichkeit als "Bollwerk der Freiheit" zu präsentieren. Polizisten "umkränzen" den Direktor, was sein Ansehen innerhalb der Belegschaft steigert. Der Direktor besucht den verkrüppelten Pförtner im Krankenhaus. Die Bedrohung durch den Terrorismus verschweisst arm und reich zu einer tragischen und bedrohten Schicksalsgemeinschaft.
Da Melanie Schwalm in ihren Flugblätter Arbeitnehmerforderungen aufführte, stehen nun Forderungen der Arbeitnehmer unter Terrorismusverdacht. Der Anschlag ist willkommener Anlass für Fata und Innenministerium, um gegen etwaige Massenproteste ein Menschenvertilgungsmittel zu entwickeln. Hierbei achtet man, anders als wennŽs um Ungeziefer geht, auf traditionelle deutsche Wertarbeit und überprüft exakt.. Der nun arbeitslose Otto ist dankbar, sich als freischaffender Giftgastester für Versuche zur Verfügung zu stellen.
Zuweilen blitzt bei Otto die Erinnerung auf, dass es mal Ansätze zu einer selbstbestimmten Arbeit gab. Als gelernter Dachdecker hatte er "nur den Himmel über sich." Wenn er das sagt, ist er auf einmal nicht mehr die preisgünstige Kopie des Direktors. Dann tauchen Restbestände von einem anderen Leben auf. In der Fabrik hat er Laboranten, Chemiker, den Abteilungsleiter, den stellvertretenden Personalchef, den Personalchef, den Direktor über sich.
Viele von Elsners Kollegen verzehren sich danach, als elegante und geschmeidige Stilisten gerühmt zu werden. Sie (Elsner) sperrt sich dagegen. Im Synonymwörterbuch zu blättern, hält sie für fad. Sie bevorzugt Wiederholungen, umständliche gebaute Sätze, lange Wortaneinanderreihungen. Sie ist eine Virtuosin der kunstfertigen Kunstlosigkeit. Ja, kein Gramm Literaturfett. In alten, grauen Slapstickfilmen entsteht Komik durch die permanente Anwesenheit von Tortenschlachten und Verfolgungsjagden. Vergleichbar arbeitet die Elsner. Banale Dinge werden durch ausführliche Beschreibung und Wiederholung, die der Leser längst kennt, zur Groteske aufgebaut und der verwickelte Satzbau kommt Ottos verzwickter Lage entgegen.
"Otto der Grossaktionär" stammt aus dem Nachlass der Elsner (1937 - 1992). Sie muss Mitte der achtziger Jahre in eine Art hellsichtige Isolation geraten sein. Rowohlt kündigte ihr. Sie fand jahrelang keinen Verleger. Klugschwätzer plauderten gerade vom konsumorientierten Citoyen innerhalb der postmaterialistischen Zivilgesellschaft und deutschstrickende Friedensfrauen sorgten für den Seelenhaushalt der oberen Mittelschicht. Da wusste die Elsner : Die Bewusstseinsindustrie hat die Köpfe schon so besetzt, dass Menschen, die für nicht mehr rentabel erklärt werden, lieber an ihrer Selbstvernichtung mitwirken, als zu rebellieren. Die Elsner muss wunderbar unzeitgemäss gewesen sein. Ein ausserordentlich anschauliches Nachwort hat Christine Künzler geschrieben. Mit "Otto" wagte sich die Elsner in bislang unbekanntes Terrain vor: Die Hauptfigur ist zum ersten Mal ein Kleinbürger und es wird stellenweise Dialekt gesprochen. Künzler erläutert ausführlich, was es mit Ottos Aktien, der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen, der T-Aktie und der Volksaktie auf sich hat: nämlich gar nichts.
"Otto der Grossaktionär" ist ein grandioser, vom rabenschwarzen Humor getragene Angriff auf unsere Hackordnung.
Gisela Elsner: Otto der Grossaktionär.
Herausgegeben von Christine Künzel nach der Typoskriptfassung.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
172 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426093