Die aktuelle Weltwirtschaftskrise verstehen

02.04.12
ÖkologiedebatteÖkologiedebatte, Sozialismusdebatte, Krisendebatte 

 

von Saral Sarkar - Initiative Ökosozialismus
 
Ein ökosozialistischer Ansatz
 
Inhalt
Einleitung
I. Oberflächliche Erklärungen  
II. Warum platzte die Immobilienblase?
III. Die tieferen Ursachen der Krise
1. Die Grenzen des Wachstums  
2. Die Illusion wachsenden Wohlstands – der falsche Maßstab BIP
Defensive und kompensatorische Kosten
IV. Überholte profunde Krisentheorien – marxistische, keynesianische, schumpeterianische
V. Das gegenwärtige keynesianische Dilemma
VI. Perspektiven
VII. Schluss
Literatur
 
Einleitung
 
Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise, die etwa im Januar 2008 begann und bis jetzt anhält1, hat die Welt erschüttert. Politiker, Ökonomen und Publizisten benutzen Superlative, um sie zu beschreiben. Sie ist als die schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der frühen Dreißigerjahre beschrieben worden. Oberflächlich betrachtet, hat es auch in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach ähnliche, wenngleich nicht gleich schwere, Krisen gegeben. Es gab Börsen-crashs, Bankpleiten, Finanzmarktkrisen, Kreditklemmen, starke Rezessionen, Staatspleiten usw. Ich habe sie in meinem Buch Die Krisen des Kapitalismus (2010) beschrieben. Die Größenordnung, d.h. die Tiefe und Breite der gegenwärtigen Krise jedoch ist so groß, dass alle Beteiligten zeitweise in Panik verfielen. Viele Beobachter fürchteten sogar um das Überleben des Kapitalismus. Es stellte sich die Frage, ob es nur eine weitere Krise im Kapitalismus ist oder vielmehr die Krise des Kapitalismus, auf welche Marxisten, Kommunisten, Sozialisten und andere Kritiker des Kapitalismus seit Langem warten. Zumindest in einem Punkt herrscht Übereinstimmung: Der Kapitalismus wird niemals mehr so sein wie vor der Krise. Das heißt, der ungezügelte, globalisierte, neoliberale Kapitalismus wird künftig in gewissem Umfang gezähmt werden. Diese Arbeit hat schon begonnen.
1 Der Text wurde im August 2010 verfasst und im September 2011 leicht überarbeitet.
Ich nehme an, dass die Leser dieses Aufsatzes über die wichtigsten Fakten und Ereignisse der Krise gut informiert sind. Hier beabsichtige ich nur, ein tieferes und umfassendes Verständnis der Krise zu ermöglichen. Deshalb wiederhole ich nicht die verbreiteten oberflächlichen Analysen und Spekulationen über die Zukunftsaussichten.
 
I. Oberflächliche Erklärungen  
 
Wirtschaftswissenschaftler der verschiedenen gegenwärtigen Denkschulen unterscheiden sich kaum in ihren Erklärungen für die Krise. Ihre Erklärungen, die ich für oberflächlich halte, sind meinen Lesern sicherlich auch wohlbekannt. Dennoch fasse ich unten die wichtigsten Elemente dieser Erklärungen zusammen, um die Unterschiede zwischen diesen und meiner Erklärung deutlich zu machen.
1. Der wichtigste Punkt ihrer Erklärungen ist, dass die sogenannten Subprime Hypothekenkredite den größeren Teil der hohen Zahl und der hohen Summen der faulen Kredite ausmachten, welche die Hauptursache und der Auslöser der Krise in den USA waren. Solche Kredite wurden von Geschäfts- und Hypothekenbanken an Hauskäufer vergeben, welche normalerweise wegen niedrigen Einkommens und/oder unsicheren Arbeitsplatzes nicht als kreditwürdig angesehen worden wären. Gleichwohl wurden diese riskanten Kredite vergeben, weil die Struktur des US-Fi-nanzmarktes fehlerhaft gewesen sei. Die örtlichen Banken zögerten nicht, solche riskanten Kredite zu vergeben, da sie wussten, dass sie diese umgehend an die riesigen Hypothekenbanken (Freddie Mac und Fannie Mae) weiter verkaufen würden. Diese wiederum schufen Wertpapiere auf der Basis von Bündeln von solchen Subprime Hypothekenkrediten (Verbriefung) und verkauften sie an Banken in der ganzen Welt. Diese kauften sie, weil sie ihr überschüssiges liquides Geldkapital profitbringend anlegen wollten.
2. Die Federal Reserve (kurz auch Fed genannt, die Notenbank der USA) hielt über eine lange Periode den Leitzinssatz sehr niedrig. So machte sie es den Banken sehr leicht, von ihr riesige Summen zu leihen und sie weiter an kreditunwürdige Leute und Spekulanten zu verleihen, die von den niedrigen Zinssätzen angezogen wurden. So entstanden der Immobilienboom und später die
Blase.  
3. Die Banker waren gierig. Da Bonuszahlungen einen großen Teil ihrer Vergütung ausmachten und ergebnisabhängig gezahlt wurden, waren sie überaus risikofreudig, sowohl bei der Kreditvergabe, als auch bei spekulativen Geschäften.
4. Die Finanz- und Bankenindustrie war zu wenig reguliert, und auch ihre Globalisierung war unkontrolliert verlaufen. Ein Ergebnis dieser zwei Fakten war, dass eine gewaltige Summe hoch riskanter, hoch komplizierter und kaum verständlicher Wertpapiere weltweit, überwiegend an Banken, verkauft wurden.
Diese Dinge beziehen sich nicht nur auf die Situation in den USA, sondern ebenso auf die in den meisten führenden Industrieländern.
 
Für mich sind diese Erklärungen oberflächlich und nicht überzeugend. Zweifellos basieren sie auf Fakten. Sie bieten jedoch keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum die Krise so schwer, so weitreichend und so lang andauernd wurde und weshalb sie nicht ebenso leicht überwunden werden konnte wie die vorangegangenen ähnlichen Krisen: der Börsencrash von 1987, die Ostasien-Krise von 1997–1998 und die Krise von 2001–2003 (Näheres in Sarkar 2010). Sie erklären nicht, warum die Krise immer noch anhält und warum die Aussichten immer noch so düster sind.
Zudem sind zwei dieser Fakten wirklich banal. Die Gier der Banker erklärt nichts, denn Gier gehört von jeher zu den Grundpfeilern des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Gier wird von allen Teilnehmern an dem System erwartet – mehr oder weniger. Und die Deregulierung der Finanzindustrie ist seit den 1980er Jahren ein wesentlicher Bestandteil des globalisierten neoliberalen Kapitalismus  
Die anderen zwei Fakten waren in der Tat etwas ungewöhnlich. Banker haben immer auch etwas riskante Kredite vergeben; und ein Teil solcher Kredite musste auch immer routinemäßig abgeschrieben werden. In diesem Fall jedoch war der Umfang der Subprime-Kredite so gewaltig, dass die Geschäfte nicht in gewohnter Weise weitergehen konnten, als in den USA der Immobilienboom endete, die Immobilienpreise zu fallen begannen und Tausende von Hypothekenschuldnern in Zahlungsverzug gerieten. Die Gläubigerbanken konnten nicht mehr, wie gewohnt, ihr Geld durch Verkauf der Häuser zurückholen.
In der betreffenden Zeit war auch die Politik der Federal Reserve ungewöhnlich. Normalerweise beginnt die Fed (ebenso wie im neoliberalen, kapitalistischen System fast alle Notenbanken), die Geldmenge zu verknappen, sobald die Wirtschaft Anzeichen von Überhitzung zeigt, wie eine überdurchschnittliche Inflationsrate oder die Bildung einer Blase auf dem Aktien- oder Immobilienmarkt. Das übliche Instrument dafür ist die Erhöhung des Leitzinssatzes, welche dann zur Erhöhung der Marktzinssätze führt. Diesmal jedoch ließ die Fed, durch Beibehaltung des niedrigen Leitzinssatzes, die Blasen weiter wachsen.
Sowohl die Fed als auch die Banken sind für die Verfolgung dieser ungewöhnlichen Politik kritisiert worden, welche nach Ansicht ihrer Kritiker die Hauptursache der schweren Krise war. Die Krise jedoch allein darauf zurückzuführen, ist unberechtigt und verhindert, dass die wahren Ursachen der Krise gefunden werden und ihre Natur verstanden wird.  
Es wurde berichtet, dass der Immobilienboom den regierenden Politikern durchaus gelegen kam. Gier ist nicht nur ein Charakterzug der Banker und Spekulanten. Auch normale Menschen, insbesondere normale Amerikaner, möchten reich werden. Das ist Teil des sogenannten „Amerikanischen Traums“. Und der Besitz eines Hauses, so protzig wie möglich, war bis dahin der Weg des normalen „kleinen Mannes“ zum Reichtum, zumal nach allgemeiner Meinung der Wert eines Hauses, im Gegensatz zu dem von Aktien, nur steigen konnte. Bei der Erfüllung dieses Traums wollten Politiker natürlich gern behilflich sein. Schließlich machten die Armen und die Mittelklassebürger die Mehrheit der Wähler aus. Speziell die Demokratische Partei hatte ein besonderes Interesse daran, diese Politik zu verfolgen, da sie annahm, dass Arbeiter und andere arme Amerikaner zur Gruppe ihrer (potenziellen) Wähler gehörten. Im Jahr 1997 wurde durch die Initiative des Präsidenten Clinton (der der demokratischen Partei angehört) ein Gesetz verabschiedet, welches Gewinne aus Immobilienverkäufen von der Steuer befreite. Das ermutigte
Spekulation.
Ein Immobilienboom war jedoch auch in der Republikanischen Partei stark erwünscht. Präsident George W. Bush (2001–2008) erklärte, er wünsche jedem  Amerikaner den Besitz eines Hauses. Politiker jeder Richtung übten deshalb, direkt oder indirekt, Druck auf die Banken aus, armen Amerikanern Kredite für den Erwerb eines Hauses zu vergeben.
Es wäre jedoch falsch, wenn man aus diesen Fakten schlösse, dass nur begrenzte wahltaktische Überlegungen selbstsüchtiger Politiker zu dem massiven Anstieg der Subprime-Immobilienkredite geführt hätten. Das alles war auch makroökonomisch sinnvoll. Wir müssen bedenken, dass die USA sowohl in den frühen Neunzigern als auch in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts unter einer Rezession litten. Das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) fiel von 3,5% im Jahr 1989 auf -0,5% im Jahre 1991. 2000 bis 2001 kollabierte die sogenannte „Neue Ökonomie“. Zusammen mit einem lang anhaltenden Verfall der Aktienkurse geriet auch die reale Wirtschaft in die Rezession. Die Wachstumsrate des BIP sank von 4,4% im Jahre 1990 auf nur noch 0,8% im Jahre 2001. Zwischen 2000 und 2002 entließen die Telekommunikationskonzerne eine halbe Million Mitarbeiter. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg von 4% im Jahre 2000 auf 5,8% im Jahre 2002 (Zahlen von OECD 2000, OECD Dezember 2004, und Brenner 2003). Angesichts dieser Rezession musste selbst Präsident George W. Bush, ein Republikaner, zu typisch keynesianischen Maßnahmen greifen, um die Wirtschaft zu beleben, welche sich 2003–2004 zu erholen begann. Ein durch Subprime-Kredite stark unterstützter Immobilienboom passte perfekt zu solchen keynesianischen Bemühungen. Er förderte Wachstum und Beschäftigung zu einer Zeit, in der mehr und mehr ameri-kanische Firmen des produzierenden Gewerbes ihre Fertigungsaktivitäten in Niedriglohnländer verlagerten oder sogar ganz schlossen. Der Bau von Häusern für Amerikaner kann weder in Niedriglohnländer verlagert werden, noch können sie, anders als z.B. Autos, komplett aus dem Ausland importiert werden. Sie mussten in Amerika gebaut werden. Zudem sind Häuser lebenswichtige Güter. Dennoch begannen Beobachter 2006, vor einer Immobilienblase zu warnen, und bald darauf begann der Immobilienmarkt abzukühlen.
 
II. Warum platzte die Immobilienblase?
 
Es ist grob vereinfachend, zu sagen: Jede Blase platzt früher oder später. Es ist wichtig, zwischen einer Immobilienblase und einer Börsenblase zu unterscheiden. Die Letztere platzte auch, im Oktober 2008, das heißt nach der Ersteren.
Es hieß, dass in den ersten sieben Tagen nach dem Platzen der Börsenblase Vermögen im Wert von 2,5 Billionen Dollar verloren ging und dass Aktionäre seit dem Kurshöhepunkt ein Jahr zuvor 8,4 Billionen Dollar verloren (Wall Street Journal, 10. 10. 2008). Aber was bedeutet das wirklich? Man sagt in solchen Fällen, das Vermögen hätte sich in Luft aufgelöst. In Wirklichkeit jedoch verschwand überhaupt nichts Konkretes, kein Haus, kein Auto, nichts. Was sich in Luft auflöste, waren nur ein paar Zahlen auf Papier, einige Nullen hinter einer Ziffer. Die 8,4 Billionen Dollar waren nur fiktives Vermögen. Ein Jahr bevor die Aktienwerte ihren Höchstpunkt erreicht hatten, waren dieselben Aktien erheblich niedriger bewertet. Nur die Spekulation hatte die Marktwerte dieser Aktien in die Höhe getrieben. Nach dem Crash hörten die ohnehin nur fiktiven Werte auf zu existieren.
Der wirkliche Wert von Aktien bestimmt sich letztendlich allein dadurch, wie groß die Nachfrage nach den Produkten der betreffenden Firma ist. Wenn eine Firma wegen mangelnder Nachfrage nach ihren Produkten liquidiert werden muss, kann der Wert ihrer Aktien auf Null fallen. Häuser hingegen sind sehr konkrete Dinge, mit bedeutendem Nutzwert. Im Allgemeinen gibt es keinen Mangel an Nachfrage nach Häusern, da die Bevölkerung in fast allen Ländern wächst und da die Menschen sich bessere Wohnungen wünschen. (Nur ganz bestimmte Häuser mögen keinen Abnehmer finden.)
In unserem konkreten Fall, der Subprime-Hypothekenkrise in den USA, hatten die
Hypothekenschuldner nicht etwa die Lust verloren, in ihren auf Kredit erworbenen Häusern zu wohnen. Sie waren, zumindest die überwiegende Mehrheit von ihnen, keine Spekulanten. Es war vielmehr so, dass Hunderttausende von ihnen unter geänderten Umständen außerhalb ihrer Kontrolle ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten. Als sie zahlungsunfähig wurden, wurden sie von ihren Gläubigerbanken zur Räumung gezwungen, und ihre Häuser wurden auf dem Markt zum Verkauf angeboten. Das löste eine Kettenreaktion aus. Die Hauspreise fielen immer tiefer, und immer weniger neue Häuser wurden gebaut. Die entscheidende Frage für das Verstehen der gegenwärtigen Krise ist daher, warum normale Menschen, welche ihre Häuser auf Kredit erworben hatten, die Fähigkeit verloren, ihre Schulden zu bedienen.  
Als die Krise des Immobilienmarktes auf den Aktienmarkt übergriff und die fallenden Aktienkurse wiederum, über den negativen Vermögenseffekt, die Kreditwürdigkeit und mithin die Kaufkraft von Millionen von Aktionären schwächten, schlug dieser Abschwung auf die Realwirtschaft durch und verstärkte damit die Rezession, welche nach Meinung amerikanischer Ökonomen bereits im Dezember 2007 begonnen hatte. Wie Häuser sind auch Autos, unter anderem, sehr konkrete Dinge mit großem Gebrauchswert. Es ist nicht etwa so, dass Amerikaner plötzlich die Lust verloren, große Autos, wie die von General Motors hergestellten, zu besitzen und zu fahren. Viele Menschen waren jedoch einfach nicht mehr in der Lage, die hohen Preise dafür zu bezahlen. Zudem führten hohe Benzinpreise auch zu erhöhten Betriebskosten. Die Menschen konnten sich solche Autos ganz schlicht nicht mehr leisten.
 
III. Die tieferen Ursachen der Krise
 
Wir müssen deshalb die geänderten Umstände verstehen, die dazu führten, dass normale Bürger, welche ihre Häuser auf Kredit erworben hatten, ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten.  
 
1. Die Grenzen des Wachstums  
 
Trotz vieler Ähnlichkeiten unterscheidet sich die gegenwärtige Krise in einem entscheidenden Punkt von den vorangegangenen. Die Krisen der Vergangenheit wurden von den Machthabern im allgemeinen Bewusstsein des Glaubens an die Möglichkeit unbegrenzten Wirtschaftswachstums angegangen. Ich bezeichne dieses Bewusstsein als das Wachstumsparadigma. Die aktuelle Krise hingegen entstand und besteht in einem intellektuellen Klima und vor einem Hintergrund fort, die beide grundsätzlich anderer Art sind. Schon seit etlichen Jahren gibt es eine breite öffentliche Diskussion, in der sich sogar die Machthaber über das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten und die schwindende Ressourcenbasis der Industriegesellschaften sehr besorgt zeigen.  
Das Entstehen dieser Probleme wurde zwar bereits 1972 von den Autoren des ersten Berichts an den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, vorhergesagt. Die Menschheit konnte sich aber noch für lange Zeit erlauben, solche Warnungen zu ignorieren. Jetzt jedoch scheinen viele politische Führer aufzuwachen. So hat es sich Al Gore, der frühere Vizepräsident der USA, zu seiner Lebensaufgabe gemacht, die Menschheit dazu zu bewegen, ernsthaft zu versuchen, die globale Erwärmung zu stoppen. Und Barack Obama, der neue Präsident der USA, sprach in seiner ersten Rede nach dem Sieg in der Präsidentschaftswahl am 4. 11. 2008 von unserem „Planeten in Gefahr“.
Der Planet ist nicht nur wegen der globalen Erwärmung in Gefahr. Das ökologische Gleichgewicht der Erde ist seit Langem gefährdet, so durch die zunehmende Entwaldung – besonders die zunehmende Zerstörung der Regenwälder –, durch progressiv abnehmende Biodiversität und durch zunehmende Umweltverschmutzung verschiedenster Art.
Die Schrumpfung der Ressourcenbasis der Industriegesellschaften manifestiert sich am klarsten darin, dass die Ölförderung nach Meinung der meisten Fachleute ihren Höhepunkt erreicht oder gar bereits überschritten hat. Das ist der Grund dafür, dass der Preis vom Rohöl, der weitaus wichtigsten Ressource der modernen Industriegesellschaften, in den letzten Jahren vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise kontinuierlich stieg. Im Juli 2008 überstieg er $ 140 pro Barrel.
Auch die Preise anderer wichtiger Rohstoffe stiegen stark an. Das betraf sowohl Energiequellen wie Kohle, Gas und Uran als auch wichtige Industriemetalle wie Kupfer, Zink, Eisen, Stahl, Tantal und viele andere. Sogar die Preise von Nahrungsmitteln – Lebensgrundlage und die wichtigste Energiequelle für die Wiederherstellung der Arbeitskraft Hunderter von Millionen Menschen in aller Welt – stiegen exorbitant an. Nachdem die Rezession einsetzte und sich vertiefte, fielen diese Preise zwar wieder, sie erreichten jedoch nie wieder das niedrige Niveau von z.B. 2000. Heute schwankt der Rohölpreis um $ 100, obwohl die Erholung von der Rezession sehr schwach ist.
Diese Preisanstiege dürfen nicht verwechselt werden mit den üblichen Inflationen der Vergangenheit, die durch überhöhte Lohnforderungen der arbeitenden Menschen ausgelöst wurden (die sog. Lohn-Preis-Spirale). Wie wir wissen, sinken (oder stagnieren) seit Langem die Reallöhne und -einkommen der meisten Arbeiter in aller Welt. Diese Preisanstiege werden auch nicht allein durch steigende Nachfrage aus China, Indien, Brasilien usw. verursacht. Wenn dies die einzige Ursache wäre, könnte eine entsprechende Erhöhung des Angebots durch die Konzerne einschlägiger Branchen die Inflation wieder stoppen. Nein, die Hauptursache der genannten Preis-anstiege ist der Anstieg der Extrahierungskosten der wichtigsten Rohstoffe. Diese Kostenanstiege kommen daher, dass die betreffenden Rohstoffe in geologisch und geografisch immer schwerer zugänglichen Erdschichten und -gegenden gewonnen wer-den müssen (man denke an Ölförderung an der gefrorenen Westküste von Grönland!), sodass immer mehr Energie- und Materialinput für ihre Extrahierung notwendig ist. Im Falle von Energiegewinnung ist das, worauf es ankommt, die Energiebilanz, d.h. die gewonnene Netto-Energie. Die geologischen und geografischen Verhältnisse können wir Menschen nicht ändern (Siehe dazu Sarkar 2001: Kapitel 4 und Kern 2010)  
Auch die Umweltdienste, welche die Natur für uns erbringt, sind wichtige Ressourcen jeder Gesellschaft: ihre Fähigkeit, gewisse Mengen menschengemachter Verschmutzung zu absorbieren, ihre Fähigkeit, die Fruchtbarkeit urbaren Bodens zu regenerieren, die Gesundheit erhaltenden Eigenschaften reiner Luft und sauberen Wassers und anderes mehr. Die Kosten der Erhaltung solcher Ressourcen in Industriegesellschaften sind ebenso angestiegen wie die für die Gewinnung der oben erwähnten wichtigen Rohstoffe.
Die steigenden Kosten der Gewinnung oder Erhaltung all dieser Ressourcen bedeuten, dass einer zunehmenden Anzahl von Menschen in der Welt immer weniger davon verfügbar ist. Nur die wenigen Glücklichen, deren Realeinkommen steigt oder zumindest, trotz solcher Verhältnisse, nicht sinkt, können die gleiche Menge von diesen Ressourcen konsumieren wie zuvor. Niemand kann genau wissen, wie viel von diesen Ressourcen von einer bestimmten Person verbraucht wird. Wenn aber jemand arbeitslos ist oder nur noch einen Teilzeitjob hat, wenn das Realeinkommen einer Person sinkt, dann ist es klar, dass diese Person einen immer kleineren Anteil an den erwähnten Ressourcen erhält. Das gilt auch für den Zugang zur Arbeit und Dienstleistung anderer Menschen, wie z.B. von Ärzten oder Mitarbeitern der Verkehrsbetriebe.
Genau das geschieht zurzeit in den meisten Teilen der Welt. Sogar in Deutschland, einem der reichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt, sinken die Realeinkommen der durchschnittlichen Arbeitnehmer seit vielen Jahren. Offizielle deutsche Statistiken bestätigten 2006 (gerade ein Jahr vor dem Beginn der gegenwärtigen Krise in den USA), dass die Realeinkommen bereits einige Jahre zuvor begonnen hatten zu sinken (Frankfurter Rundschau, 29. 7. 2006). Außerdem findet eine große und weiter steigende Zahl von Arbeitern nur noch unregelmäßige oder Teilzeitbeschäftigung. Über die Lage in den USA berichteten drei Autoren 2006, dass auch da die Reallöhne der Mehrheit der Arbeitnehmer, trotz zufriedenstellenden Wirtschaftswachstums, gesunken waren. (vgl. Krugman 2006; Luce und Guha 2006). Persönlich empfand die Mittelschicht dieses volkswirtschaftliche Wachstum als ihren sozialen Abstieg. Ein Gewerkschaftsführer beschrieb die wirtschaftliche Situation der Arbeitnehmer als einen „Wettlauf nach unten“ – mehr Arbeit bei schlechterer Bezahlung, schlechterer Krankenversicherung usw. Was ihn noch mehr in Zorn brachte, war, dass gute Arbeitsplätze gestrichen wurden und dass hoch qualifizierte Techniker gezwungen wurden, miese Jobs bei Wall Mart, Burger King oder ähnlichen Betrieben anzunehmen (CNN, 3. 9. 2006; meine Notizen.)  
Darum sollte niemand darüber verwundert sein, dass der Immobilienboom in den USA 2007 zu
Ende ging und Hausbesitzer begannen, zahlungsunfähig zu werden. Es begann mit den Subprime-Schuldnern. Bald aber begann auch die klassische Arbeitnehmerschaft und dann die Mittelschicht, ihr Wohneigentum zu verlieren.
Gewerkschafter und alle Sorten von Linken sehen die Schuld an der gegenwärtigen Misere der arbeitenden Bevölkerung in brutaler kapitalistischer Ausbeutung und der Schwäche der Arbeiterklasse, in den Machenschaften gewissenloser Spekulanten und gieriger Banker, in der Verlagerung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer in Folge der Globalisierung usw. Natürlich treffen auf den ersten Blick alle diese Erklärungen zumindest teilweise zu. Doch bei näherer Betrachtung wird klar: wenn es alles in allem immer weniger Ressourcen zu verteilen gibt, weil es immer schwieriger wird, sie aus der Natur zu extrahieren, dann kann selbst in einer besseren kapitalistischen Welt mit einer starken Arbeiterklasse bestenfalls eine gerechtere Verteilung erreicht werden, nicht aber steigender Wohlstand für alle. Es ist jetzt an der Zeit, in völlig neuen Kategorien zu denken. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig: weg vom bisherigen Wachstumsparadigma, hin zu dem, das ich als „Grenzen-des-Wachstums-Paradigma“ bezeichne.
Wir können die Sachlage näher erläutern, und zwar wie folgt: Arbeiter im weitesten Sinne erzeugen Waren und Dienstleistungen unter Einsatz von Ressourcen (einschließlich Energieressourcen), Werkzeugen und Maschinen, welche ihrerseits auch unter Ressourceneinsatz hergestellt wurden. Wenn nun immer mehr Arbeiter wegen abnehmender Verfügbarkeit erschwinglicher Ressourcen ihren Arbeitsplatz verlieren oder nur noch Teilzeitarbeit finden, dann produzieren sie entweder keine Güter und Dienstleistungen mehr oder weniger davon als zuvor. Da nun fast alle Güter und Dienstleistungen letzten Endes mit anderen Gütern oder Dienstleistungen bezahlt (oder ausgetauscht) werden, ist es unausweichlich, dass diese Arbeiter weniger Güter oder Dienstleistungen von anderen erhalten können.
Wir wissen, dass heute, wegen der höheren Stufe der Automation und Rationalisierung, weniger Beschäftigte (oder weniger Vollzeitbeschäftigte) nötig sind, um unter Einsatz einer gegebenen Menge von Ressourcen eine gegebene Menge von Gütern oder Dienstleistungen zu produzieren als, sagen wir, vor zwanzig Jahren. Es ist natürlich möglich, für die gleiche Menge Produktion mehr Teilzeitkräfte einzusetzen. Das würde eine gerechtere Verteilung der nötigen Menge bezahlter Ar-beit unter den Menschen ermöglichen, die arbeiten können und wollen. Das kapitalistische Produktionssystem mag dem jedoch entgegenstehen.
 
2. Die Illusion wachsenden Wohlstands – der falsche Maßstab BIP
 
In seinem oben erwähnten Artikel sprach Krugman (2006) vom fehlenden Zusammenhang („disconnect“) zwischen stagnierenden Löhnen, sogar sinkenden Reallöhnen, auf der einen Seite und zufriedenstellendem volkswirtschaftlichem Wachstum auf der anderen. Der Ausdruck „disconnect“ scheint anzudeuten, dass diese Tatsache unerklärlich ist oder dass die Gewerkschaften zu schwach sind, Vorteile aus dem Wirtschaftswachstum zu erkämpfen. Im Gegensatz dazu habe ich oben erklärt, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind. Ich will dies im Folgenden erläutern.
Ebenso wie es möglich ist, dass die Reallöhne sinken, obwohl die Nominallöhne steigen, ist es möglich, dass das reale Nationaleinkommen sinkt, während das reale BIP wächst. Das reale BIP wird allgemein als der Maßstab des nationalen Wohlstands angesehen. Jedoch, genau betrachtet, misst es weder das reale Einkommen einer Nation, noch ist es ein Indikator des nationalen Wohlstandsniveaus. Was es misst, ist lediglich der reale Geldwert (d.h. der inflationsbereinigte Geldwert) aller, und aller Arten von, Gütern und Dienstleistungen, welche in einem Land in einem Jahr produziert wurden. Natürlich werden dabei Güter und Dienstleistungen, die zwar produziert, nicht aber auf dem Markt verkauft wurden – beispielsweise die Dienstleistungen einer Hausfrau zum Wohle ihrer Familie – nicht für die Berechnung des BIP berücksichtigt. Sie können aber berücksichtigt werden, falls das erwünscht ist. Statistiker könnten solchen Sachen einen angemessenen Wert beimessen, die Gesamtsumme einschätzen und sie zum offiziellen BIP addieren. Das gleiche BIP würde damit durch einen höheren Wert dargestellt. Das ist alles, aber
darum geht es hier nicht.
 
Defensive und kompensatorische Kosten  
 
Wenn man an reales Einkommen, an Wohlstand, Reichtum, Wohlbefinden oder Wohl-ergehen einer Nation denken will und nicht nur an das formale BIP, dann muss man die Art der produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen prüfen. Ein großer Teil davon addiert nichts zum Einkommen oder Reichtum einer Nation, im Gegensatz zu dem eines Individuums oder einer Firma. Zum Beispiel die Arbeit eines Soldaten, der bezahlt wird, obwohl kein Krieg herrscht, die Arbeit Tausender, welche Waffen produzieren, die Arbeit von Ärzten bei der Behandlung von Kranken und die Arbeit von jenen, die Flutopfer retten – solche Elemente des BIP sind für die Nation nur Ausgaben, Kosten, während sie für die betreffenden Individuen (Soldat, Arzt, Katastrophenhelfer usw.) Einkommen sind. Sie erhöhen den Reichtum der Nation nicht. Ökonomen, welche kein Opfer einer Illusion sein wollen, bezeichnen sie als „defensive Kosten“.
Wenn ein Gebäude, das durch eine Flut zerstört wurde, durch einen Neubau ersetzt wird, dann stellt das keine Erhöhung des nationalen Reichtums dar. Nur der vorher-gehende Verlust wird hier kompensiert. Die Energie, die Materialien und die Arbeit, die dazu eingesetzt werden, sind reine Kosten. Das Gleiche gilt für jede Reparatur. Sie werden als „kompensatorische Kosten“ bezeichnet. Alle defensiven und kompensatorischen Kosten gehen in das BIP ein. So werden auch die 32 Milliarden Dollar – die geschätzten Kosten für die Beseitigung der Umweltschäden, die das BP-Ölleck im Golf von Mexiko verursacht hat – in das BIP der USA und Großbritanniens im Jahre 2010 eingehen. So verliert das BIP einen Teil seines Wertes als Indikator des Einkommens und Wohlstands.
Im Kontext unserer Fragestellung sind die durch Umweltdegradation verursachten Schäden relevanter, weil sie hauptsächlich als Konsequenz derselben Aktivitäten entstehen, die für uns Wohlstand erzeugen sollen, nämlich industrieller Produktion. In China schätzte das nationale Statistikamt die 2004 durch ökologische Schäden für das Land entstandenen Kosten auf 3% des BIP des Jahres. Sie schätzten die Kosten der Beseitigung oder Reparatur der Schäden auf 106 Milliarden Euro. Diese Summe entsprach 7% des BIP von 2004. (Financial Times, 8. 9. 2006). Der Bericht ist etwas unklar. Die 7% des BIP von 2004 mögen für die Beseitigung/Reparatur der bis dahin angesammelten ökologischen Schäden erforderlich gewesen sein, nicht für die Beseitigung/Reparatur der nur 2004 entstandenen Schäden. (Meine chinesischen Leser mögen vielleicht Nachforschungen anstellen und die Fakten herausfinden). Was ich damit sagen möchte, ist, dass nicht alles von den tollen Wachstumsraten Chinas auch Wachstum des realen Einkommens ist.
Die gewaltigen Schäden, welche in diesem Jahr (2010) in China durch extreme Wetterereignisse entstanden sind – lange Dürre und durch pausenlosen Regen ausgelöste verheerende Erdrutsche und Überschwemmungen –, sind höchst wahrscheinlich Folgen des Klimawandels. Wie hoch die Kosten für China sind, die diese verursacht haben, werden Statistiker erst später abschätzen. Es kann aber sicher schon jetzt gesagt werden, dass diese und andere ähnliche Kosten das reale Nationaleinkommen beträchtlich schmälern werden.
Aber die bei einzelnen Ereignissen oder in einem bestimmten Jahr entstandenen Kosten sind nicht besonders wichtig für unsere Untersuchung. Wichtiger ist der Trend. 1971 dachte K. William Kapp, der erste Wissenschaftler, der sich mit diesem Phänomen beschäftigte, das Konzept sollte um die Kosten der Schäden erweitert werden, die industrielle Produktion der sozialen Umwelt zufügt. Dazu zählen Kosten von Berufskrankheiten, Todesfällen und Gesundheitsschäden sowie Kosten von psychischen Leiden, also Kosten von allen Schäden, die durch schlechte Arbeitsbedingungen verursacht werden. Diese können alle, ebenso wie Umweltschäden, auch irreversibel sein. Schon 1971 konnte Kapp verallgemeinernd schreiben: „Trotz der Probleme, die … Sozialkostenschätzungen aufwerfen, ist es berechtigt zu sagen, dass die Umweltgefährdung und die daraus entstehenden Sozialkosten dahin tendieren, sowohl absolut als auch relativ mit dem
Wachstum von Produktion und Konsum zuzunehmen.“ (Kapp 1979: XIII)  
Krugman (2006) schrieb in seinem Artikel, dass in den USA die Stagnation der Löhne und das Sinken der Reallöhne trotz zufriedenstellenden Wirtschaftswachstums bereits in den 1970er Jahren begannen. Das war etwa die gleiche Zeit, zu der auch Kapp zu seinen oben zitierten Schlussfolgerungen kam. Kosten, die der Gesellschaft als ganzer entstehen, müssen von allen Mitgliedern der Gesellschaft getragen werden. Da im Kapitalismus die Reichen mächtig sind und die Arbeiter arm und schwach, ist es unvermeidlich, dass Arbeiter und die Armen den größeren Teil solcher Kosten tragen müssen. Krugman schrieb weiter, dass die von den Unternehmen an die Mitarbeiter gezahlten Zuschläge bereits in den 1980ern begannen, gesenkt zu werden. Die Korrelation zwischen steigenden Sozialkosten und stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen ist offensichtlich.
In Deutschland, das ich besser kenne, kann heute das gleiche Phänomen beobachtet werden. Ich will nur ein Beispiel dafür anführen. Die Kosten der Gesundheitsfürsorge steigen ständig an (ein wachsender Teil dieser Kosten entsteht aus geistigen und psychischen Leiden). Die Arbeitgeber weigern sich, ihren Anteil der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu erhöhen, die Pharmaindustrie weigert sich, die Medikamentenpreise zu reduzieren, und die Ärzte fordern und erhalten regelmäßig höhere Vergütungen. Die Arbeitnehmeranteile an den Beiträgen zur Krankenversicherung werden jedoch per Gesetz erhöht. Das ist ein Teil der Erklärung für die sinkenden Realeinkommen der Arbeitnehmer und der Armen.
Ich will diesen Abschnitt mit einer Erklärung der Britischen Regierung abschließen, in der diese einen Ausblick auf die Zukunft und ein Beispiel für defensive Kosten gibt. Sie sagt, dass Großbritannien in den nächsten vierzig Jahren seine Treibhausgas-Emissionen um 80% reduzieren muss und dass das Land zu diesem Zweck mehr Atom-, Sonnen- und Windenergie benutzen muss. Dann jedoch müssen die Bürger bereit sein, pro Kopf und Jahr 300 Pfund Sterling mehr zu zahlen, damit die Lichter nicht ausgehen (The Daily Telegraph, 28. 7. 2010). Es ist allerdings fraglich, ob Atom-, Sonnen- und Windenergie überhaupt ohne die fossilen Energiequellen lebensfähig sind (Siehe Sarkar 2001: Kapitel 4)  
 
IV. Überholte profunde Krisentheorien –  
marxistische, keynesianische, schumpeterianische
 
Wenn nun die Leser überzeugt sind, dass meine oben angeführte Argumentation eine tiefer gehende Erklärung für die gegenwärtige Krise ist und dass sie auch erklärt, warum die Weltwirtschaft große Schwierigkeit hat, die Krise zu überwinden, dann liegt der Schluss nahe, dass jetzt alle die anderen, bisher als profund geltenden Krisentheorien nicht länger relevant sind. Das gilt besonders für die Krisentheorien von Marx, Keynes und Schumpeter, so erhellend sie in der Vergangenheit auch gewesen sein mögen. Diese Theorien waren in der Tat profund, wenngleich in Teilen falsch. Sie wurden aber alle im Rahmen dessen ersonnen, was ich das „Wachstumsparadigma“ genannt habe. Sie waren wertvoll, solange dieses Paradigma als ein Axiom, also als ein allgemein anerkannter Grundsatz, galt. Dieses Paradigma ist heute jedoch nur noch ein sehr zweifelhafter Glaubensartikel, ebenso obsolet geworden wie das geozentrische ptolemäische Paradigma der Astronomie nach der Entdeckung der heliozentrischen Struktur unseres Sonnensystems durch Kopernikus.
Die früheste dieser profunden Krisentheorien, die von Marx und seinen Anhängern, wurde von Generationen von Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschaftern mit großer Überzeugung vertreten. Allerdings wurde sie schon angezweifelt, bevor irgendjemand von Grenzen des Wachstums sprach. Die Zweifler waren nicht nur Theoretiker des Establishments, sondern auch einige Marxisten wie z.B. Paul Sweezy (siehe Sweezy 1942/1959).
Die wichtigere der marxistischen Krisentheorien beruht auf zwei verknüpften Aussagen, nämlich: 1. Der Kapitalismus wird regelmäßig von Wirtschaftskrisen heimgesucht, weil die durchschnittliche Profitrate die Tendenz hat zu fallen, und 2. das ist eine Folge der ansteigenden Tendenz der
organischen Zusammensetzung des Kapitals. Marx und die Marxisten waren überzeugt, dass neuer Wert (Mehrwert) nur durch Arbeit (variables Kapital) geschaffen werden kann und dass Maschinen und Rohmaterialien (konstantes Kapital) keinen neuen Wert schaffen können. In diesem kurzen Aufsatz kann nicht auf die Einzelheiten dieser komplexen Theorie eingegangen werden. (Dazu siehe Sarkar 2010: Kap. 1 und 10). Es muss hier genügen zu sagen, dass dieser Gedanke dazu führte, die Wichtigkeit leicht verfügbarer und damit billiger natürlicher Ressourcen, insbesondere billiger Energieressourcen, für die Schaffung von Wohlstand zu übersehen.  
Sowohl Marx als auch Engels konnten die Umweltverwüstungen durch die industrielle Produktionsweise beobachten. Die Schuld daran wies Marx jedoch in einem berühmten Passus des Kapital Bd. 1 der „kapitalistischen Produktion“ zu, welche die „Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx 1977: 529 f. Hervorhebung durch Sarkar). Daraus könnte man schließen, dass sich das Problem erledigen würde, sobald der Kapitalismus überwunden ist. Der Glaube an die immense Kraft der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung führte zu der verbreiteten Überzeugung, dass alle materiellen Probleme früher oder später gelöst werden würden. Darum waren auch Marx und Engels nicht übermäßig besorgt. Engels, der sogar von der „Rache“ der Natur sprach, schrieb auch:
 
„… seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft in diesem Jahrhundert werden wir mehr und mehr in den Stand gesetzt, auch die entfernteren natürlichen Nachwirkungen wenigstens unserer gewöhnlichsten Produktionshandlungen kennen und damit beherrschen zu lernen ...“ (Engels 1973: 173 f.)
 
Was das Ressourcenproblem betrifft, war zu Marxens Zeiten und auch bis vor ein paar Jahrzehnten ein Mangel an natürlichen Ressourcen kein Thema ernsthafter Diskussion. Niemand dachte auch nur an die Möglichkeit solchen Mangels. So hatten Marx und seine Anhänger keinerlei Grund, an dem Wachstumsparadigma zu zweifeln.
Heute beobachten wir entsetzt die riesigen Ölkatastrophen im Golf von Mexiko und in der Gelben See bei Dalian, und wir beobachten die verheerenden Dürren, Waldbrände und sintflutartigen Überschwemmungen in Amerika, Russland, China und Pakistan, die alle durch die globale Erwärmung verursacht worden sind. Wir haben in den 1980er Jahren den nuklearen Gau in Tschernobyl und die Chemiekatastrophe in Bhopal beobachtet. Wenn wir an all das denken, können wir über den oben zitierten Satz von Engels nur ungläubig den Kopf schütteln. Marx und Engels jedoch lebten im neunzehnten Jahrhundert. Wir können sie nicht dafür kritisieren, dass sie nicht wussten, was wir heute wissen. Wir können aber jenen Marxisten, Kommunisten und Sozialisten unserer Zeit nicht verzeihen, die immer noch nicht begriffen haben, dass es Grenzen des Wachstums gibt und dass es auch Grenzen der Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik gibt (zum letzteren Punkt siehe. Sarkar 2001: Kap. 4 & Sarkar 2010: Kap. 10).
Ein weiteres Versagen von Marx, Engels und ihren Anhängern war, dass sie sich weigerten, die grundsätzliche Wahrheit der Aussagen von Malthus zur Bevölkerungsfrage zu akzeptieren. Marx hielt den Aufsatz von Malthus für eine Verleumdung der menschlichen Rasse. Engels schrieb, dass „… ökonomische Gesetze...[nur]... historische, entstehende und verschwindende Gesetze“ sind. Engels und Lenin erklärten, dass der grenzenlose Fortschritt von Wissenschaft und Technik das ökonomische Gesetz des abnehmenden Grenzertrags  aufhebt, auf dem ein Teil der Thesen von Malthus beruht. (Diese Zusammenfassung der Ansichten von Marx, Engels und Lenin beruht auf Zitaten bei Meek 1971). Heute ist es offensichtlich, dass Bevölkerungswachstum und sinkende oder stagnierende Pro-Kopf-Verfügbarkeit von Ressourcen, deren wichtigste Nahrungsmittel und Wasser sind, zu allen Aspekten der gegenwärtigen Krise der Menschheit beitragen. Wenn die Völker der Welt einen größeren Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Nahrungsmittel und Wasser ausgeben müssen – das ist gerade wieder der Fall in August 2010 –, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Nachfrage nach anderen, weniger wichtigen Gütern nicht steigen kann und dass deshalb auch die aktuelle Wirtschaftskrise nicht enden kann.
Eine weitere marxistische Theorie der Krisen im Kapitalismus ist die Unterkonsumtionstheorie, die
auch als eine Überproduktionstheorie angesehen werden kann. Die Krisentheorie von Keynes ist dieser Krisentheorie ähnlich. Keynes sieht die Ursache von Rezession, Depression und, noch wichtiger, lang andauernder (säkularer) Stagnation im Wesentlichen in allgemeinem Nachfragemangel. Keynes sagt, je reicher die Menschen in den Industriegesellschaften werden, desto kleiner wird die Proportion ihres Einkommens, die sie für Konsum ausgeben, was logischerweise die Investitionsfreude der Unternehmer schmälert. Seine geistreiche Wortprägung „Sparparadoxon“ ist eine Aufforderung an Staat und Bevölkerung der reichen Industrienationen, mehr zu konsumieren und weniger zu sparen. Sie können Schulden machen und mehr konsumieren und diese Schulden später aus ihren künftigen Einkommen zurückzahlen, das, so die Erwartung, im Laufe der Zeit steigen wird. Unglücklicherweise beharren die heutigen Keynesianer immer noch auf dieser Keynes‘schen Politikempfehlung aus den 1930er Jahren. Aber wie soll in der Zukunft höheres Einkommen geschaffen werden, wenn die Verfügbarkeit von vielen Rohstoffen abnimmt und diese immer teurer werden?
Heute muss die Keynes‘sche Theorie, ebenso wie die marxistische Unterkonsumptionstheorie, aus zwei Gründen verworfen werden. Zuerst einmal können sie als Erklärung für die gegenwärtige Krise nicht überzeugen. Es ist, schon seit Langem, ganz schlicht nicht wahr, dass die Bevölkerungen der reichen Industrieländer zu wenig konsumieren und zu viel sparen. Vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise war in den USA die Sparquote unter 1% gefallen. Sogar Arbeiter und Arme gaben sich seit Langem hohem Konsum mit geliehenem Geld hin. Wie wir gesehen haben, kauften sie mit Krediten sogar protzige Häuser, welche sie sich nicht wirklich leisten konnten. Das Gleiche war in allen reichen Industrieländern der Fall, wenngleich die Sparquote nirgends so niedrig war wie in den USA. Die Krise auf dem Immobilienmarkt der USA (2006/2007) entstand nicht aus der Überproduktion von Häusern. Alle Häuser, die gebaut wurden, fanden auch bereitwillige Käufer.
Zweitens haben weder Standard-Keynesianer noch Standard-Marxisten bis heute verstanden, dass es das hohe Konsumniveau der Bevölkerungen der reichen Länder ist, das hauptsächlich die globale Erwärmung sowie andere ökologische Degradationen und Schäden verursacht. Zum Glück für die Menschheit, falls es nicht bereits zu spät ist, werden die Ressourcenklemme und die daraus resultierende lang andauernde Stagnation der Weltwirtschaft die ökologische Krise etwas abmildern. Wir haben es bereits erlebt. Als in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre die industrielle Produktion in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern größtenteils zusammenbrach, ging ihr Ausstoß von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen ebenfalls zurück. Es gibt in der Tat einen Widerspruch zwischen der industriellen Produktionsweise und dem Gleichgewicht der Umwelt.
Schumpeter hatte schon sehr früh Wirtschaftskrisen und Depressionen als einen wesentlichen Teil des Prozesses der wirtschaftlichen Entwicklung akzeptiert. Anders als Keynes empfahl er also keine Politik zur Vermeidung oder Behebung von Wirtschaftskrisen. Er war im Gegenteil sogar überzeugt, dass sie eine positive Funktion haben, nämlich die der „schöpferischen Zerstörung“, ohne die wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstandszunahme nicht möglich wären. Heutige Schumpeterianer sehen also in der gegenwärtigen Krise eine große Chance. Sie hoffen, dass die „Zerstörung“ eine Welle von Kreativität auslösen wird, eine Welle von Innovationen, deren Pioniere visionäre und dynamische „Unternehmer“ sein werden, wie Schumpeter sie definiert hatte. Und das, so hoffen sie, wäre der Beginn einer neuen „langen Welle“, deren erste Phase eine von hohen Wachstumsraten und steigendem Wohlstand wäre.
Insbesondere sprechen sie das zweifache Problem mit den fossilen Brennstoffen an: Erstens gehen sie, die Hauptenergiequelle der Industriegesellschaften, zur Neige (peak oil, steigende Preise), und zweitens ist deren Verbrennung die Hauptursache der globalen Erwärmung. Die Schumpeterianer glauben, dass erneuerbare Energien wie Solar-, Wind-, Biomasse- und Erdwärmeenergie bald – dank sowohl den Fortschritten bei Forschung und Entwicklung als auch der Initiative dynamischer Unternehmer – die konventionellen Energien ersetzen werden. Es ist bereits oft die Rede von der künftigen „grünen industriellen Revolution“.
Als in unserem  konkreten Fall der gegenwärtigen Krise vor etwa einem Jahr die drei großen amerikanischen Autohersteller, insbesondere General Motors, drohten, pleite zu gehen, empfahlen
Schumpeterianer gemäß ihrem Credo schöpferischer Zerstörung der amerikanischen Regierung, sie Bankrott gehen zu lassen. Der deutsche Publizist Thomas Steinfeld schrieb:
 
„Die Erkenntnis, dass die Krise zum Kapitalismus gehört wie das Rad zum Wagen, hat … Schumpeter mit seiner These von der ‚schöpferischen Zerstörung‘ geliefert. … Hunderte große Unternehmen sind zugrunde gegangen, mit oft schlimmen Folgen für die Belegschaft, und doch sind bislang immer wieder andere an ihre Stelle gerückt. Warum sollen nun einige Firmen – und warum gerade diese, und warum jetzt? – eine Bestandsgarantie erhalten? Wieso staatliche Garantien für ein verlängertes Leben?" (Steifeld 2008)
 
Am Ende seines Artikels schrieb Steinfeld in Bezug auf die größte Sorge der Autoindustrie, nämlich die Verfügbarkeit und den Preis von Öl:
 
„Ganze Teile der Wirtschaft werden sich nun neu erfinden müssen. Die Politiker sollten sie nicht daran hindern. Glaubt man Schumpeter, braucht der Kapitalismus keine bestimmten Ressourcen. Er braucht nur Ressourcen überhaupt. Er bräuchte vielleicht nicht einmal Öl, sondern wäre ohne Weiteres bereit, mit dem auf Ölbasis erwirtschafteten Geld in alternative Energien umzusteigen, wenn nur die Rendite stimmte. In dieser vollkommenen Gleichgültigkeit des Kapitalismus gegenüber dem Stoff, mit dem er wirtschaftet, liegt ein erhebliches Stück Hoffnung.“ (Steinfeld 2008)
 
Auf diesen Punkt werde ich weiter unten zurückkommen.
 
V. Das gegenwärtige keynesianische Dilemma
 
Die Art und Weise, in der die Regierungen der wichtigsten Industrieländer auf die gegenwärtige Krise reagierten, war typisch keynesianisch. Nicht nur, dass die Notenbanken Geld in den Finanzsektor schütteten, um die Banken und andere Finanzinstitute mit dringend benötigter Liquidität zu versorgen, so wie sie es schon beim Börsencrash von 1987 getan hatten. Diesmal schalteten sich auch die Staaten direkt ein. Sie stellten den vom Konkurs bedrohten Unternehmen Hunderte von Milliarden Dollar und Euro zur Verfügung. Außerdem allozierten sie viele Milliardensummen für Konjunktur stimulierende Ausgaben (790 Milliarden Dollar in den USA), um eine katastrophale Rezession zu verhindern. In einigen Fällen übernahm der Staat sogar faktisch vorübergehend einige große Unternehmen, welche vor dem Bankrott standen: z.B. Fannie Mae, Freddie Mac, AIG und General Motors in den USA, die Royal Bank of Scotland in Großbritannien, Hypo Real Estate in Deutschland usw.
Das geschah gelegentlich auch in den vergangenen Jahrzehnten, obwohl in wesentlich kleinerem Umfang. Diesmal jedoch gibt es zwei neue und große Probleme: Zunächst einmal weckten die gewaltigen Summen die altbekannte Angst vor Inflation in untragbarer Höhe, da ein großer Teil des Geldes von den Notenbanken neu geschöpft (nach alter Ausdrucksweise, gedruckt) wurde. Zweitens erhöhte das noch die bereits existierenden öffentlichen Schuldenberge. Um nur ein paar Beispiele zu geben: Im Mai 2010 war das Verhältnis von Staatsschulden zum BIP in Deutschland 76,7%, in den USA 92,6%, in Großbritannien 78,2%, in Griechenland 124,1%, in Japan 227,3%. (Süddeutsche Zeitung 19. 5. 2010)
Obwohl ein Staat nicht so leicht aufgelöst werden kann wie eine Firma, kann er bankrott gehen, besonders wenn ein großer Teil seiner Schulden im Ausland gemacht worden und gleichzeitig seine Wirtschaft in schlechtem Zustand ist. Das ist in der Geschichte häufig geschehen, sogar in jüngster Vergangenheit. Im Falle von Argentinien im Jahre 2001 könnte man von einem besonders gravierenden Fall von Missmanagement sprechen. Aber diesmal stand im Mai 2010 sogar Griechenland, ein Mitglied der EU und der Eurozone mit ihren strikten Regeln, am Rande des
Bankrotts, und das Land ist immer noch nicht außer Gefahr. Wegen zu hoher Staats-schulden, von denen 99% Ausländern geschuldet werden, und schlechter wirtschaftlicher Grunddaten mit einem Haushaltsdefizit von 8,9% (ebd.) wurde die Kreditwürdigkeit des Landes auf den Weltfinanzmärkten auf Ramschstatus herab-gestuft. Auch die Kreditwürdigkeit von Portugal, Spanien und Irland, ebenfalls Mitglieder der EU und der Eurozone, wurde herabgestuft. Sie alle haben Schwierigkeiten, ihre neuen Staatsanleihen zu verkaufen und alte Anleihen bei Fälligkeit zu erneuern. Aus diesem Grund müssen sie hohe Effektivzinsen anbieten.
Aus diesen Gründen können sich Staaten nicht mehr, wie früher, durch Konjunkturprogramme aus einer Rezession herausziehen. Sie müssen ihre Ausgaben zurückfahren, um nicht bankrott zu gehen. Wenn sie aber die Ausgaben mitten in einer Rezession zurückfahren, vertiefen sie diese weiter. Spanien zum Beispiel, das in einer tiefen Rezession mit einer Arbeitslosenquote von 20% steckt, ist gezwungen, seine Staatsausgaben zu reduzieren, da sein Haushaltsdefizit von 7,3% zu hoch ist. (ebd.) Das hat dem Land aber auf dem Weltfinanzmarkt nichts genützt. Die Ratingagenturen stuften seine Kreditwürdigkeit nochmals herab, diesmal mit der Begründung, die massiven Kürzungen der Staatsausgaben ließen die Aussichten auf Erholung von der Rezession schwinden.
Dieses verfahrene Dilemma hat zu einer Kontroverse zwischen den Regierenden der USA und denen der EU geführt. Die Amerikaner wollen die keynesianische Politik steigender Staatsausgaben noch eine Zeitlang fortsetzen, nämlich bis eine deutliche Erholung eingesetzt hat. Die Europäer, angeführt von Deutschland, fürchten die Langzeitfolgen wachsender Staatsverschuldung der Mitgliedsländer. Sie sind besonders besorgt wegen des schwindenden Vertrauens der Anleger. Die Europäer haben sich jetzt dafür entschieden, eine Politik der Verringerung der Haushaltsdefizite zu verfolgen. Keynesianische Ökonomen haben sozusagen eine Kampagne gegen diese konservative Sparpolitik der EU gestartet. Paul Krugman z.B. schrieb: „Ich fürchte, wir befinden uns zurzeit in der Frühphase einer dritten Depression. Sie wird vermutlich mehr der Langen Depression [von 1873–1896] gleichen als der sehr viel schlimmeren „Großen Depression“ [der 1930er Jahre]. Die Kosten jedoch – für die Weltwirtschaft und, vor allem, für die Millionen von Leben, die durch das Fehlen von Arbeitsplätzen ruiniert würden, werden trotzdem gewaltig sein“ (Krugman 2010). David Leonhardt schrieb: „Die reichen Länder führen jetzt ein gefährliches Experiment durch. Sie wiederholen eine Wirtschaftspolitik aus den 1930er Jahren – Ausgaben kürzen und Steuern erhöhen, bevor eine Erholung gesichert ist ... (Leonhardt 2010). Ein anderer Kritiker kommentierte: Wenn jetzt viele Länder gleichzeitig Löcher in ihre Staatshaushalte schneiden, werden sie sich gemeinsam in ein tieferes Loch schaufeln. Die Realitätsferne dieser Keynesianer ist zum Verzweifeln. Sie nehmen den Unterschied zwischen der Lage in den 1930er Jahren und der heutigen Lage nicht wahr. In den 1930er Jahren gab es weder eine Ressourcenklemme noch eine Erderwärmung.
Die strengen Austerity-Maßnahmen, die der griechischen Bevölkerung bereits aufgezwungen worden sind, haben zu massiven Protestdemonstrationen, gewalttätigen Ausschreitungen und Streiks geführt. Dadurch wird die Wirtschaft weiter gelähmt. Auch in Spanien gab es Protestdemonstrationen und Streiks. Die Mehrheit der Bevölkerung dieser Länder jedoch scheint zu verstehen, dass ihre Regierung keine Alternative hat und dass sie den Gürtel enger schnallen muss. Sie fordert nur, dass die notwendigen Opfer gerecht verteilt werden und dass auch die Reichen ihren Anteil an den Lasten der Austerity-Politik tragen.
Die amerikanischen Politiker hoffen natürlich, dass das Schlimmste bald vorbei sein wird, dass eine kräftige Erholung einsetzen wird, und dann ein Aufschwung. Aber diese Hoffnung ist unbegründet. Mitte 2009 begann die US-Wirtschaft in der Tat wieder zu wachsen. Aber nach einem aufs Jahr umgerechneten Wachstum von 3,7% im ersten Quartal von 2010 konnte die Wirtschaft im zweiten Quartal nur noch um 2,4% wachsen.2 Und keine neuen Arbeitsplätze wurden geschaffen (Süddeutsche Zeitung 2. 8. 2010). Die unvermindert hohe Arbeitslosigkeit (9,5%) hat alle Betroffenen enttäuscht.
2 Nach Abschluss dieses Textes, und nachdem ich ihn der Redaktion übergeben hatte, erhielt ich die Information (CNN, 28. 8. 2010), dass die US-Wachstumsrate für das zweite Quartal von 2010 auf nur noch 1,6% gesunken ist. Natürlich steigert das die Angst vor einer zweiten Rezession.
Es wird jetzt offensichtlich, dass ein Volk nicht dauerhaft ein gutes Leben führen kann, indem es Geld ausgibt, das es nicht verdient hat. Bei privater Verschuldung gibt es eine Grenze. Ebenso kann kein Staat die Wirtschaft ständig dadurch stimulieren, dass er Schulden macht und/oder beliebig viel Geld druckt. Irgendwann können die fälligen Staatsanleihen nicht mehr zurückgezahlt werden, weil potenzielle Anleger die Anleihen von Staaten, deren Wirtschaft stagniert oder sich sogar in einer Rezession befindet, nicht mehr kaufen. Wenn es aber nur ein mäßiges oder unbeständiges Wachstum gibt – das ist zur Zeit in zahlreichen Ländern der Fall (es gibt nur einige wenige Ausnahmen, z.B. China, Indien und Brasilien) –, dann können die Staaten aus Furcht, das Wachstum zu gefährden, die Steuern nicht erhöhen. Sie können auch nicht hoffen, dass das mäßige oder unbeständige Wachstum ausreichende Steuereinnahmen ermöglicht, um neue Schuldenaufnahmen unnötig zu machen. Außerdem ist ein mäßiges Wachstum nicht ausreichend, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, wie die oben zitierten Daten aus den USA zeigen.
Frühe Keynesianer hatten sogar die Hoffnung, dass die Ausführung ihrer Empfehlungen zu so hohem Wachstum und mithin zu so hohen Steuereinnahmen führen würde, dass auch angesammelte Altschulden des Staates zurückgezahlt, zumindest reduziert werden könnten. Aber ihre Rezepte funktionieren nur bei Vorhandensein von realem, brachliegendem Wachstumspotenzial, das realisiert werden kann. Das ist heute nicht mehr der Fall. Sie waren sich der Grenzen des Wachstums und des defensiven und kompensatorischen Charakters eines großen Teils des BIP absolut nicht bewusst (heutige Keynesianer sind es immer noch nicht). Sie waren zu ihrer Zeit nicht mit diesen Tatsachen konfrontiert. Heute hingegen sehen wir diese Grenzen nicht nur, wir spüren auch den Druck. Es mag schon einige Staaten geben, die einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen können. Aber Altschulden tilgen können ist für Staaten sehr viel schwieriger.  
Die USA und Griechenland – das sind natürlich ganz unterschiedliche Fälle. Der Dollar ist die wichtigste Währung der Welt. Anleger werden sicherlich noch einige Zeit bereit sein, US-Staatsanleihen zu kaufen. Die USA können, anders als Griechenland, auch beliebig viel Geld drucken und den Dollar abwerten. Aber auch sie werden eines Tages vor den Problemen stehen, die Griechenland heute hat. (Für eine ausführliche Diskussion und meine Kritik des Keynesianismus siehe Sarkar 2010: Kap. 3, 5 und 7).
 
VI. Perspektiven
 
Ich will nun ein bisschen darüber spekulieren, was uns alles bevorsteht.
Wie ich oben ausgeführt habe, sind es letzten Endes die Grenzen des Wachstums, die eine Erholung der Wirtschaft von der gegenwärtigen Krise verhindern. Da die objektiven Grenzen des Wachstums nicht zu überwinden sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass die reichen Industrieländer eine lange Periode von Stagnation (sehr schwaches Wachstum oder gar keines) erleiden werden, so wie Japan in den 1990er Jahren. Ich sage hier nichts wirklich Neues. Selbst viele Establishment-Ökonomen sagen das mittlerweile. Für die nächste Zukunft sehen viele Ökonomen sogar die Gefahr einer Deflation. (International Herald Tribune, 7. 8. 2010), die für die Wirtschaft eine schlimmere Aussicht darstellt als eine Inflation. Für Japan trifft das bereits zu (Süddeutsche Zeitung, 3. 7. 2010; International Herald Tribune, 24. 8. 2010). Neuerdings nimmt unter den Wirtschaftsfachleuten die Zahl der Untergangspropheten zu, und ihnen wird ernsthaft zugehört (Thomas Jr. 2010). Der Unterschied liegt darin, dass diese Experten zumeist von etwa einer Dekade von Stagnation sprechen, während ich meine, dass es eine lange, kontinuierliche Schrumpfung geben wird, bis irgendwann ein Gleichgewichtszustand erreicht sein wird. Das ist die Logik der Grenzen des Wachstums. Diejenigen, die die gegenwärtige Krise nicht mit dieser Logik erklären, d.h. diejenigen, die hoffen, die Krise mit einer klugen Mischung von verschiedenen Politiken überwinden zu können, sehen natürlich eine neue lange Periode von Wachstum und Wohlstand voraus.
Viele Optimisten unter ihnen hoffen auf den baldigen Beginn einer „grünen“ industriellen Revolution, welche ein starkes Wirtschaftswachstum hervorruft. Dieses wäre nachhaltig, sowohl ökologisch als auch in Bezug auf Ressourcen. Wenn sich diese Hoffnung erfüllte, wäre nicht nur die
gegenwärtige Krise überwunden, sondern der Kapitalismus erhielte zugleich ein solides Fundament für ewiges Wachstum. Denn dann gäbe es nämlich keinerlei Probleme mehr mit der Energieversorgung und der Verfügbarkeit von anderen Rohstoffen. Schließlich wird die Sonne noch einige Milliarden Jahre weiter scheinen. Und sie liefert uns doch jeden Tag kostenlos 15.000 mal mehr Energie, als wir heute weltweit verbrauchen. Es wird behauptet, dass ein großer Teil davon schon heute wirtschaftlich nutzbar ist. Bei Verfügbarkeit von so viel erneuerbarer Energie sollte auch nahezu 100% Recycling von fast allen Materialien möglich sein.
In zwei Büchern (Sarkar 2001 & 2010) habe ich meine Argumente dafür dargelegt, weshalb ich diese Hoffnungen nicht teile. Diese können hier nicht wiederholt werden. Aber drei Fakten sollen hier erwähnt werden, die hinreichend deutlich machen, dass auch die politisch Mächtigen der Welt diese Hoffnungen nicht teilen können: Erstens: Nirgendwo werden ernsthafte Anstrengungen unternommen, alle Abfälle zu recyceln. Die einzigen Ausnahmen sind sehr arme Länder, in denen die Arbeitskraft spottbillig ist, und die sehr teuren Metalle wie Gold und Silber. China zum Beispiel, insgesamt kein reiches Land, unternimmt bereits seit einigen Jahren große Anstrengungen, um sich in Afrika und Australien Zugang zu allen Arten von Mineralien zu sichern. Um den Titel eines 1975 auf Deutsch erschienenen Buches zu verwenden: Der Planet wird geplündert (Gruhl 1975). Zweitens: Trotz allem Getöse um die erneuerbaren Energien wird weltweit massiv in den Bau neuer konventioneller Kraftwerke, einschließlich gefährlicher Atomkraftwerke, investiert. Und die Suche nach Öl und Gas wird auf immer tiefere Bereiche der Meeresböden ausgedehnt, einschließlich der Meeresböden um den Nordpol. Drittens: Der Ölgigant BP, der zeitweilig seinen Namen in „Beyond Petroleum“ („Jenseits des Öls“) geändert hatte, um seine Hinwendung zu erneuerbaren Energien zu betonen, entschloss sich jetzt, im Tiefwasser vor der libyschen Küste nach Öl zu bohren, statt in der libyschen Wüste Solarkraftwerke zu bauen. Und das kurz nach dem katastrophalen Ölleck im Golf von Mexiko.
Dies ist die heutige Situation. Obamas letztjähriges großes Gerede davon, dass die USA stärker als zuvor aus der Krise herauskommen würden, wird nun wahrscheinlich nicht wahr werden. Es erweist sich mehr und mehr als leeres Gerede. Ich habe oben die Jobkrise in den USA erwähnt. Die Wachstumsrate im zweiten Quartal von 2010 ist unter 2,5% geblieben, unter der Rate also, die nach Meinung amerikanischer Ökonomen mindestens nötig ist, um die Arbeitslosenquote nur konstant zu halten. (Süddeutsche Zeitung, 5. 8. 2010). Wie hoch muss die Wachstumsrate sein, um die Arbeitslosenquote, sagen wir, zu halbieren? Was noch schlimmer ist: Die Jobkrise droht zu einer ernsten sozialen Krise zu werden. 6,6 Millionen Amerikaner suchen erfolglos seit mehr als 27 Wochen nach Arbeit. Sie gelten als Langzeitarbeitslose. Etwa eine Million von ihnen sind seit mehr als 99 Wochen arbeitslos, die Höchstgrenze, nach der ein Arbeitsloser keinerlei staatliche Unterstützung mehr erhält. Diese Menschen werden jetzt mittellos. Viele von ihnen werden auf der Straße landen (Süddeutsche Zeitung, 5. und 7. 8. 2010).  
Auch die Finanzindustrie hat die Krise noch nicht ganz überwunden. In den ersten sieben Monaten von 2010 machten weitere 103, wenn auch zumeist kleinere, Banken Konkurs. Das führt dazu, dass die großen Banken noch größer werden. Dies zeigt, dass die Regierung ihr erklärtes Ziel verfehlt hat, keine Bank so groß werden zu lassen, dass der Staat sie nicht ruhig pleite gehen lassen kann. Alles in allem spukt heute in Amerika und Europa das Gespenst einer zweiten Finanzkrise und einer zweiten Rezession herum.  
Auch in Deutschland ist der viel gepriesene Wohlfahrtsstaat auf dem Rückzug. Ich habe oben die höheren Krankenversicherungskosten erwähnt, die die Arbeitnehmer allein tragen müssen. Was die Arbeitslosen, Armen und Rentner mit kleinen Renten angeht, so wurden etliche Sozialleistungen gekürzt, oder es wird geplant, sie zu kürzen. Es wurde z.B. von Politikern vorgeschlagen, die Größe des Wohnraums, dessen Miete die Arbeitsagentur Arbeitslosen bezahlen muss, von heute 48 m2 auf nur noch 25 m2 zu reduzieren.
Makroökonomisch kann diese Entwicklung leicht erklärt werden. Die Bruttogewinnerwartung der Wirtschaft (z.B. die der Deutschen Bank) liegt zurzeit bei 25%. Wenn das BIP mit einer Rate von nur 2% wächst und das reale Nationaleinkommen – nach Abzug der ständig steigenden defensiven und kompensatorischen Kosten (siehe Abschnitt III. 2 oben) – überhaupt nicht oder mit einer noch
geringeren Rate, dann können die Erwartungen der Wirtschaft nur erfüllt werden, wenn Armen und Schwachen weniger gegeben wird.
In den anderen Ländern Westeuropas ist die Lage des Wohlfahrtsstaates ebenso schlecht, wenn nicht sogar noch schlechter. Ein Beobachter, Steven Erlanger, schreibt: „Die Europäer haben sich mit ihrem Sozialmodell gebrüstet – mit ihrem reichlichen Urlaub, mit ihrer Frühpensionierung, dem staatlichen Gesundheitswesen und großzügigen Sozialleistungen. Und sie haben diesen die relative Härte des amerikanischen Kapitalismus gegenübergestellt.“ Jetzt aber, so fährt er fort, werden für Westeuropa, „die Lebensstil-Supermacht, die Selbstverständlichkeiten und Errungenschaften einer ganzen Lebenszeit plötzlich in Zweifel gezogen. Die Defizitkrise … hat auch die Nachhaltigkeit des europäischen Standards vom Sozialstaat untergraben, der nach dem Zweiten Weltkrieg von links orientierten Regierungen aufgebaut wurde.“ (Erlanger 2010)
Dies ist kein kurzlebiges Phänomen. Was die Zukunft betrifft, so schließt Erlanger: „Die Defizitkrise in Europa ist verhängnisvoll für den Wohlfahrtsstaat.“ (ebd.) Ich stimme ihm zu. Um ein bestimmtes Land als ein konkretes Beispiel zu nehmen, schreibt der Reporter Sebastian Schoepp über Spanien: „Die Krise hat ihnen den Wunsch, Kinder zu zeugen, verdorben. Im Vergleich zum Vorjahr fiel die Geburtenrate 2009 um fünf Prozent. Drei von zehn Spaniern sehen hoffnungslos auf die Zukunft.“ (Schoepp 2010)
Es gibt auch eine gute Nachricht, für die Deutschen. Im vergangenen Jahr hat Deutschland im Exportbereich viel verlorenen Boden gut gemacht, und die weiteren Aussichten sind jetzt, zumindest kurzfristig, sehr gut. Aber in den Medienberichten und -kommentaren, welche diese kräftige Erholung feierten, gab es auch zwei Wermutstropfen, zwei Fakten, die nicht unerwähnt bleiben durften: Erstens geht diese auf Exporten beruhende Erholung Deutschlands auf Kosten seiner EU-Partner. Die französische Wirtschafts- und Finanzministerin warf Deutschland kürzlich vor, es ließe seine Wirtschaft auf Kosten seiner Nachbarn wachsen. Daten bestätigten ihren Vorwurf anschließend. Im Gegensatz zur kräftigen Erholung in Deutschland, wo das BIP im zweiten Quartal von 2010 um 2,2% wuchs, wuchs die Wirtschaft der gesamten Euro-Zone im gleichen Zeitraum nur um 1%, die Frankreichs nur um 0,6% (Süddeutsche Zeitung, 14. 8. 2010). Zweitens: Die Verantwortlichen der deutschen Wirtschaft sind besorgt über die weltweite Rohstoffknappheit (Süddeutsche Zeitung, 10. 8. 2010) Was hier hinzugefügt werden sollte, ist, dass – während die deutschen Manager weiterhin gute Geschäfte, besonders im Ausland, erwarten und der Aktienindex steigt – die Zahl der Privatinsolvenzen ebenfalls ansteigt. Mehr als sechs Millionen Deutsche werden als überschuldet angesehen. (Süddeutsche Zeitung, 23. 6. 2010)
Bis jetzt habe ich meine Aufmerksamkeit vorwiegend auf die reichen Industrieländer gerichtet. Das Bild in einigen der kürzlich industrialisierten Länder (China, Indien, Brasilien usw.) ist ganz umgekehrt. Die Wachstumsrate in diesen Ländern ist sehr hoch. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein großer Teil dieses Wachstums darauf beruht, dass seit Langem arbeitsintensive Industriezweige aus den reichen Industrieländern in diese Niedriglohnländer ausgelagert werden. China war (und ist in hohem Maße noch immer) die Werkbank der Welt, Indien das Hinterzimmer-Büro (Abwicklungsstelle). Ein Teil des Wohlstands dieser Länder ist nichts als das Ergebnis eines Nullsummen-Spiels. Außerdem ist eine wichtige Erklärung für den Boom in China – trotz der Stagnation in seinen Hauptexportmärkten Europa und Amerika – eine große Immobilienblase. Sie wurde vom Staat auf dem Höhepunkt der Krise mit einem 450 Milliarden Euro starken Stimulusprogramm geschaffen. Und sie droht jetzt zu platzen. (Wagner 2010). Zudem stören dort die fürchterlichen sozialen und ökologischen Folgen und Kosten des Wachstums niemanden, obwohl sie unübersehbar sind. Nur der kürzlich entstandene Wohlstand Brasiliens beruht nicht überwiegend auf diesen Phänomenen. Brasilien ist ein riesiges Land mit einer (verhältnismäßig) sehr kleinen Bevölkerungszahl. Es verfügt über riesige Flächen fruchtbaren Bodens und gewaltige Naturressourcen. Deshalb ist es eine Ausnahme.
Die sozialen Kosten des Wohlstands der Mittelklasse von China und Indien eskaliert. Sie manifestieren sich in der einen oder anderen Art von Klassenkampf. In China führt das bereits seit einigen Jahren zu örtlichen, teils gewalttätigen, Aufständen gegen die Behörden und die Unternehmerklasse. Kürzlich führte das auch zu (bisher) erfolgreichen Streiks für höhere Löhne. Es
kam einmal aber auch zu physischer Gewalt gegen Ärzte in einem Krankenhaus, in dem arme Patienten vernachlässigt wurden. (International Herald Tribune, 10. 8. 2010). Es gab sogar tödliche Angriffe auf Schulkinder aus der städtischen Mittelklasse, vermutlich begangen von Verlierern im Existenzkampf. Auch einige kürzlich geschehene Selbstmorde frustrierter Fabrikarbeiter können als eine Form vom Protest gegen die herrschenden Verhältnisse angesehen werden.
In Indien, in einem großen unterentwickelten Landstrich, von den Medien als der „Rote Korridor“ bezeichnet, bekämpfen „Maoisten“ – das sind ausgebeutete und missachtete, von Vertreibung von ihrem Land bedrohte Ureinwohner – den Staat mit Waffengewalt. In den friedlicheren Gebieten des Landes begingen in den letzten zehn Jahren etwa 200.000 bankrotte Kleinbauern Selbstmord. In Bangladesh, dem Land mit den niedrigsten Löhnen, mussten Textilarbeiter, welche Kleidung für die Reichen Europas und Amerikas herstellen, zu gewalttätigen Streiks greifen, um kleine Verbesserungen für sich zu erreichen.
 
VII. Schluss
 
Es ist nun an der Zeit, zu der Frage zurückzukommen, ob es sich bei der gegenwärtigen Krise einfach um eine weitere Krise im Kapitalismus handelt oder aber um die Krise des Kapitalismus. Schon im Oktober 2008 wurde in San Francisco auf einer internationalen Konferenz einiger ausgewählter linker und liberaler Intellektueller über die Frage diskutiert, ob der Kapitalismus bald vorbei sein werde. Wegen der schweren Finanzkrise im letzten Quartal von 2008 und einigen Monaten danach dachten nicht wenige, der Kapitalismus könnte zusammenbrechen. Andere mutmaßten, er könne sich von der Krise nicht erholen. Ich war nicht überzeugt. Ich argumentierte, dass das Finanzsystem nur einer der wichtigeren Mechanismen für das Funktionieren des Kapitalismus ist, nicht jedoch das Fundament des Systems. Ein beschädigter Mechanismus kann repariert werden, nicht aber ein irreversibel erodierendes Fundament. Wenn das Fundament stark und stabil bleibt, wird das System überleben. Das Fundament des heutigen Kapitalismus ist seine materielle Ressourcenbasis. Und ich meine, dieses Fundament erodiert schnell und irreversibel.
Die oben erwähnten Manifestationen des Klassenkampfes – einschließlich der Ereignisse in Griechenland und, zum Teil, in Spanien – ermutigen traditionelle Marxisten und Kommunisten. Aber sie haben noch nicht verstanden, dass diese Krise nicht einfach die Krise des Kapitalismus ist. Es ist die Krise des Industrialismus überhaupt, in welchen soziopolitischen Rahmen er auch eingefasst sein mag. Glücklicherweise dämmert es einigen von ihnen, dass man nicht einfach zu den guten alten Konzeptionen des Kommunismus oder Sozialismus zurückkehren kann. Die Schwere der ökologischen Krise und die Grenzen der Verfügbarkeit von Ressourcen können sie nicht länger bestreiten. Und einige von ihnen sind nicht länger überzeugt, dass weitere Fortschritte von Wissenschaft und Technik der Menschheit ermöglichen würde, die Suche nach immer mehr Wohlstand fortzusetzen, etwa durch die Entwicklung von „grünen“ Technologien. Sie sehen sich jetzt gezwungen, die notwendigen Anpassungen in ihrer Theorie und bei ihrer praktischen Politik zu unternehmen. Sie nennen sich jetzt selbst Ökosozialisten oder manchmal Öko-Marxisten. Diese Entwicklung begrüße ich sehr.
Es liegt außerhalb des Rahmens dieses Aufsatzes, die Ansichten der Ökosozialisten, abgesehen von meinen eigenen, oder der Öko-Marxisten darzulegen. Außerdem gibt es unter ihnen unterschiedliche Grade der ökologischen Radikalität. Ich denke aber, es ist nötig, kurz zu begründen, weshalb mir die Bezeichnung Öko-Marxismus für die Inhalte des Ökosozialismus unangemessen erscheint. Die Bezeichnung „Sozialismus“ ist sehr offen, und er kann deshalb die heute nötigen Änderungen in seiner Konzeption absorbieren. Im Gegensatz dazu ist der Öko-Marxismus verbunden, und muss es logischerweise auch sein, mit den Gedanken von Marx, wie er sie in seinen im 19. Jahrhundert geschriebenen Texten dargelegt hat. Das kann unsere theoretische und praktische Arbeit behindern. Die Werke von Marx sind schließlich keine heilige Schrift!
Ich weiß, dass prominente Marxologen, z.B. John Bellamy Foster, sich intensiv bemüht haben, zu beweisen, dass es „möglich ist, Marx in einer anderen Weise zu interpretieren, in einer, welche die
Ökologie als zentral für sein Denken auffasst ...“ (Foster 2006:VI, Hervorhebung von Sarkar). Nach sorgfältiger Forschung kam Foster sogar „zu dem Schluss, dass die Weltanschauung von Marx zutiefst und in der Tat systematisch ökologisch war (in allen positiven Bedeutungen, in welchen das Wort heute gebraucht wird), ...“ (ebd. VIII).
Während es vieler sorgfältiger Studien und Interpretationen bedarf, zu den Schlüssen zu kommen, zu denen Foster gekommen ist, gibt es bei Marx selbst viele klare Worte, welche zeigen, dass Marxens Konzeption der Emanzipation der Menschheit „prometheisch“ und „produktivistisch“ war. So zum Beispiel die folgenden berühmten Worte:
 
„Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewusst die materiellen Bedingungen einer höheren Produktionsform.“ (Marx 1977: 269)
 
Ted Benton bezieht sich offenbar auf solche Worte von Marx, wenn er schlussfolgert, dass Marxens Sicht des Kapitalismus, nämlich dass er „die Bedingungen für die künftige Emanzipation der Menschheit schafft“, ebenso „blind ist für die natürlichen Grenzen ... wie die spontane Ideologie des Industrialismus des 19. Jahrhunderts“ (zitiert in Burkett 1999: 148). Er interpretiert Marx wie folgt:
 
„Moderne industrielle Produktion ... ist eine Vorbedingung für die künftige kommunistische Gesellschaft. Die ‚historische Aufgabe‘ des Kapitalismus ist genau, über den bedingten und begrenzten Charakter der früheren Formen der Interaktion mit der Natur hinauszugehen. ... An anderen Stellen wird anerkannt, dass einige Elemente des ‚Kampfes‘ mit der Natur um Lebensnotwendiges unvermeidlich sind, wobei der Inhalt der Emanzipation darin besteht, den Zeitaufwand für diese Kämpfe zu minimieren. In jedem Fall ist die Voraussetzung für die Möglichkeit menschlicher Emanzipation das Potential der transformativen, produktiven Kräfte der assoziierten Menschen, die offensichtlichen natürlichen Grenzen zu überwinden und so das Feld für absichtsvolles menschliches Handeln zu erweitern.“ (zitiert in ebd.)
 
Burkett, der Marx gegen solche Kritik verteidigen will, argumentiert „dass Marx' Glaube an die historische Fortschrittlichkeit des Kapitalismus nicht auf einer (seiner) anthropozentrischen Bevorzugung materiellen Wohlstands gegenüber der Natur beruht“ (ebd. 149).
Wie dem auch sei, es ist weder unsere Aufgabe, Marx zu verteidigen, noch ist es nötig, ihn dafür zu kritisieren, dass er es im 19. Jahrhundert versäumt hat, Dinge zu sagen, die heute auszusprechen unsere Pflicht ist. Es ist unsere Pflicht, eine überzeugende Synthese von Sozialismus und den ökologischen Erkenntnissen der Wissenschaft zu entwickeln. Und das ist wie folgt möglich:
Unter dem Kapitalismus, aber auch unter dem sowjetischen Modell des Sozialismus, ging die Entwicklung der Produktivkräfte so weit, dass sie zerstörerisch wurden, für die Natur ebenso wie für die Menschen. Deshalb muss, allgemein gesprochen, nicht nur diese Entwicklung gestoppt werden, sondern, ebenso allgemein gesprochen, auch die Weltwirtschaft muss zurückgefahren werden auf einen Stand, der ökologisch und in Bezug auf Ressourcen wirklich nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Die weltwirtschaftliche Produktion muss schrumpfen. Solch ein Schrumpfen verträgt sich jedoch nicht mit dem Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang. Deshalb muss es planwirtschaftlich und mit sozialisierten Produktionsmitteln organisiert werden. Zudem würde das gewiss Opfer beim materiellen Lebensstandard nach sich ziehen. In jeder Gesellschaft würde dies von der Mehrheit der Menschen der unteren Schichten, welche die Mehrheit der Bevölkerung stellen, abgelehnt werden. In einer egalitären Gesellschaft – und das ist das entscheidende Merkmal einer sozialistischen Gesellschaft – würden die notwendigen Opfer ebenfalls gleich verteilt und würden deshalb wahrscheinlich eher von der Mehrheit akzeptiert. Aus diesem Grunde sollte unsere Vision Ökosozialismus sein, egal obmit oder ohne Marx.
Wie oben beschrieben, hat in Griechenland und Spanien die Mehrheit der Demonstranten gegen die kürzlichen Sparmaßnahmen der Regierung verstanden, dass sie Einschränkungen ihres
Lebensstandards hinnehmen müssen. Sie fordern jedoch, dass diese Opfer gerecht verteilt werden, dass also auch die Reichen Teile ihres Einkommens und ihrer Gewinne opfern und so ihren Teil der Bürde tragen. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise bereitet also den Boden für die Vision einer ökosozialistischen Gesellschaft. Es ist unsere Pflicht, diese Situation zu nutzen.
 
Literatur
 
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www.oekosozialismus.net




VON: SARAL SARKAR - INITIATIVE ÖKOSOZIALISMUS






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